HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
schlechten Eindruck von seiner Verlobten. Wenn Grace ihm andererseits nicht mitteilte, dass sich das Mädchen in Schwierigkeiten befand, hielt er sie wahrscheinlich für eine Närrin oder für Schlimmeres.
Vor vier Stunden hatte sie Victoria am Flussufer zurückgelassen, wo der alte Gärtner später ihre Schute fand. Das sagte noch nichts, denn Grace hatte schon oft erlebt, wie ihre Tochter den Hut einfach vom Kopf riss und fortwarf, wenn sie ihn bei ihren Aktivitäten hinderlich fand.
Wäre doch nur Cameron daheim! Er würde wissen, wie man einen Skandal vermied, und je länger Victoria ohne Anstandsbegleitung fortblieb, umso peinlicher wurde es.
Wenn ich vielleicht eine Nachricht an Hayden schicke, mich für die späte Stunde entschuldige und ihn bitte, Victoria heimzubegleiten? überlegte sie. Ja, das wollte sie tun. Hayden würde annehmen, seine Verlobte hätte vorgehabt, ihn zu besuchen. Falls er dann antwortete, er hätte Victoria nicht gesehen, wäre Grace seines Beistands sicher, ohne dass sie ihn direkt um Hilfe hätte bitten müssen.
Froh, dass sie zu einem Entschluss gekommen war, setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Gatten, um den Brief aufzusetzen. Der Hausdiener unterbrach sie sofort mit seinem Erscheinen.
„Dieses hier wurde soeben abgegeben, Mrs. Shaw. Der Junge sagte, es sei dringend, andernfalls hätte ich es bis morgen früh liegenlassen.“ Er händigte ihr einen dicken verschlossenen Umschlag aus; das Siegelwachs trug keinen Stempelabdruck.
„Danke, Ahmet. Ich werde Sie übrigens gleich bitten müssen, einen Brief zu Mr. Reed zu bringen. Ich läute, wenn er fertig ist.“ Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie den Umschlag aufriss. Ihr schwante Unheil. Victoria war verschwunden – eine junge Weiße im unzivilisierten Ägypten; was sonst konnte dies hier sein, wenn nicht eine Geldforderung, die ihre Sicherheit garantieren sollte?
Mit eiskalten Fingern drehte Grace den Umschlag um. Heraus fielen eine primitiv gezeichnete Landkarte, ein Briefbogen mit schiefen Druckbuchstaben sowie die Brosche, die Victoria heute Abend getragen hatte. Die Befürchtungen ihrer Mutter bestätigten sich.
Grace Shaw las die schlecht buchstabierte Mitteilung, lehnte sich in Camerons Sessel zurück und sprach ein Gebet.
„Lieber Gott, ich bitte dich nicht oft um etwas, doch nimm dich jetzt meiner geliebten Tochter an. Ich schwöre, ich werde das Geld beschaffen, das diese Teufel verlangen. Mach, dass sie es damit bewenden lassen“, flüsterte Grace. „Wenn ich tue, was sie sagen, werden sie ihr doch sicherlich nichts antun. Hayden wird wissen, wie mit ihnen zu verfahren ist. Er versteht sich aufs Lösen von Problemen, und ihm liegt etwas an Victoria. Ich weiß, er wird dafür sorgen, dass das Lösegeld ausgezahlt wird, wenn ich es ihm gebe. Dann wird Victoria gesund heimkehren.“
Doch würde Hayden Reed Victoria nach der Entführung noch immer zur Frau haben wollen? Grace nahm sich vor, sich jetzt erst einmal auf das Nächstliegende zu konzentrieren; die anderen Sorgen hatten Zeit bis später.
Als Erstes musste sie Camerons Assistenten bei der Bank benachrichtigen und ihn bitten, Hayden diskret das Geld zukommen zu lassen. Dann der Brief an Hayden selbst …
Hayden Reed, seines Zeichens Konsulatsangestellter, knöpfte seine Hose zu und strich mit dem Handrücken über seine verschlafenen Augen. Während er sich den steifen Hemdkragen umlegte, fragte er sich, was das wohl für ein Notfall war, dessentwegen man ihn um zwei Uhr in der Nacht aus dem Bett holte. Hoffentlich hatte es nichts mit ihm selbst und seiner Arbeit zu tun. Nun, was es auch sein mochte, er würde die Angelegenheit schon regeln.
Mit gelassenen Bewegungen, die seine Nervosität verbargen, strich sich der hochgewachsene Engländer Pomade ins Haar, und nach ein paar Bürstenstrichen saß jede der goldblonden Strähnen genau da, wo sie hingehörte. Danach spülte und trocknete er sich sorgfältig die Hände ab und prüfte dann im Spiegel sein Erscheinungsbild. Hayden wollte sich als mustergültiger britischer Regierungsbeamter darstellen, und falls sein direkter Vorgesetzter ihn jetzt zu sich zitierte, war ein untadeliges Aussehen auf jeden Fall angezeigt.
Er legte seinen maßgeschneiderten Schoßrock an und zupfte seine Hemdsärmel so weit heraus, dass die Manschetten nicht zu sehr hervorlugten. Dann öffnete er die Tür zwischen seinem augenblicklichen Junggesellenquartier und dem langen Korridor, der zu den Regierungsbüros am
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