Historical Saison Band 18 (German Edition)
da, und sie selbst schien tatsächlich so weit gesunken zu sein, dass sie für ein warmes Schlafgemach, ein üppiges Essen und eine kurze Zeitspanne ohne Schelte und Vorwürfe praktisch alles zu tun bereit war. Sie würde sich bald genug wieder auf Anzeigen bewerben und als Gouvernante verdingen müssen … nur um erneut fristlos entlassen zu werden. Warum also sollte sie ein paar Tage Komfort und Sorglosigkeit nicht genießen?
Die alte Lady Carling gab ein wütendes Schnauben von sich. „Was sich mein armer Junge – Gott hab ihn selig – dabei gedacht hat, als er dich zur Frau nahm, Clarabelle, ist und bleibt mir ein Rätsel. Gib mal her, dann …“
Das war ihr Einsatz. „Bitte, Madam“, unterbrach Pompeia sie munter und legte ihr Strickzeug zur Seite, „machen Sie sich keine Umstände.“ Sie stand auf und nahm, neben Sallys Mutter auf dem Kanapee Platz, nachdem sie ihr kurz verschwörerisch zugezwinkert hatte. „Ich kann es Ihrer Ladyschaft gerne noch einmal zeigen. Schließlich war ich Gouvernante.“
„Ständig muss man ihr alles zeigen“, murmelte die alte Lady Carling grantig. „Ich bewundere deine Geduld, Mary.“
Pompeia nahm den misshandelten Strumpf, sammelte mehrere Reihen Maschen auf und holte sie zurück auf die Nadel. Dann brachte sie die Nadelspitzen in Position. „Hier, versuchen wir es noch ein…“
„Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“
Die drei Frauen erstarrten und lauschten erschrocken dem wütenden Gebrüll. „Was in aller Welt ist denn da los?“ Clarabelle sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig.
Die alte Lady Carling runzelte die Stirn. „Eine solch ungehörige Ausdrucksweise dulde ich nicht. Dafür werde ich Simon gehörig den Kopf waschen.“
„Es klang nicht wie Simon.“ Seine Mutter schüttelte zweifelnd den Kopf.
Pompeia erhob sich wie in Trance. „Er war es auch nicht“, flüsterte sie schockiert. Diese wutentbrannte Stimme hätte sie überall erkannt. Sie würde sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen, obwohl sie sie nur einmal vernommen hatte.
Doch diesmal galt das Brüllen sicher ihr.
Auf der Treppe waren polternde Schritte zu hören, und Pompeia drohte das Herz auszusetzen. Sie musste fort von hier. Fliehen. Schnell.
Nein! Sie musste etwas tun .
„James! Warte!“ Das war Sally. „Bitte, lass mich doch …“
„Zu spät“, ließ sich Simon vernehmen. Inzwischen hallten die Schritte auf dem Marmorfußboden des Korridors wider.
„Aber James sollte noch gar nicht zurück sein“, stöhnte Clarabelle.
Denk nach! Los! Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Katastrophe abzuwenden. Nicht für sie selbst, das war unmöglich, aber wenigstens für Sally, die so sehr auf die Eintrittskarten für Almack’s hoffte. Leider reichte die Zeit nicht. Sie hätte James unter vier Augen sprechen müssen, damit er die Täuschung nicht enthüllte. Sie hätte ihn überzeugen, ihn überreden müssen. Unaufhaltsam näherten sich die Schritte dem Salon.
Ich weiß, wie man einen Mann überredet, flüsterte das „Schamlose Frauenzimmer“ in ihr.
Nicht du! Nicht jetzt! Im ersten Moment hätte Pompeia schreien mögen, aber dann erkannte sie, dass ihre innere Stimme diesmal vielleicht recht hatte. Sie setzte sich in Bewegung und ging zur Tür.
Zu spät.
Er stürmte in den Raum wie eine Naturgewalt. Es war tatsächlich James, nur älter, breitschultriger und noch attraktiver als vor vier Jahren – angefangen bei dem welligen dunklen Haar und den grauen Augen bis zu den abgetragenen Lederbreeches. Das Schamlose Frauenzimmer in ihr applaudierte, während der Rest von Pompeia zusammenzuckte und in einem verzweifelten Versuch, sich zu fassen, die Augen schloss. Um sie herum setzte ein Gewirr von Stimmen ein, doch sie achtete ausschließlich auf seine und wappnete sich für die verhängnisvollen Worte, mit denen er sie als Betrügerin entlarven und zum Gehen auffordern würde.
Mach die Augen auf, verlangte das Schamlose Frauenzimmer in ihr. Sieh ihn an!
Pompeia tat es. Der Ärger wich aus seinen Zügen und machte einem Ausdruck von Verblüffung Platz.
Für den Anfang ganz gut, befand das Schamlose Frauenzimmer. Und nun lass deine Augen sprechen. Aber das hatte Pompeia schon einmal getan – begleitet von Worten, die keinerlei Missverständnis zuließen. Damals hatte sie sich eine verletzende Abfuhr von ihm eingehandelt.
Das war früher, beharrte das Schamlose Frauenzimmer. Heute ist heute. Lächle gefälligst, um Gottes willen!
Pompeia
Weitere Kostenlose Bücher