Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
Vom Netzwerk:
Als die Dämmerung einsetzte und die Deutschen zu rennen anfingen, auf daß sie noch rechtzeitig nach Hause kamen, rief der Muezzin vom Turm der St.-Johannis-Kirche zum Gebet. Wie immer antworteten die Russen von der anderen Alsterseite mit Maschinengewehrsalven, kurz darauf mit russischem Hardrock. Sie hatten die Minarette der Blauen Moschee, in der sie ihr Hauptquartier eingerichtet, mit solch gewaltigen Boxen bestückt, daß die Musik über der zugefrorenen Alster stand, ohne zu verzerren. Vom Gesang des Muezzins war nichts mehr zu hören, stattdessen das Gedröhn der Geschütze, die nun von türkischer Seite abgefeuert wurden. Auch wenn keine einzige Rakete in den Himmel steigen würde, sobald um Mitternacht das ’
27
er-Jahr anbrach, gehörig knallen würde es, das stand fest. Dazu hatte es in den letzten Tagen zu viele Provokationen gegeben, die Selbstmordanschläge rund um Weihnachten im russisch kontrollierten Ostteil, die Rachefeldzüge der Todesschwadronen durch den Westteil. Ohnehin wurde nach Einbruch der Dunkelheit auf jeden geschossen, den Milizen, Jugendbanden oder Scharfschützen entdecken konnten. An den Demarkationslinien der geteilten Stadt rüstete man selbst heute zum Häuserkampf, Straßen und Plätze leergefegt. Nur auf der Krugkoppelbrücke, wo nachts immer der Deutschenstrich war, herrschte bis zum Morgengrauen Waffenstillstand, Freischärler wie reguläre Soldaten kamen von beiden Seiten. Kaufner war öfters dort gewesen, solange er noch eine Hoffnung gehabt und gesucht hatte, sogar bis zum Anbruch der Ausgangssperre gesucht hatte, obwohl er sich damit beim Heimweg in Lebensgefahr gebracht. Überall Straßensperren, Kontrollpunkte, glücklicherweise kannte er fast alle, die auf Dächern, in Hauseingängen, hinter Barrikaden oder Müllcontainern ihr Terrain bewachten. Der Krieg war zum Alltag geworden, man hätte sich damit arrangieren können, wenn man es gekonnt hätte. So ging es nun schon seit eineinhalb Jahren; wenn nicht bald einmal jemand aufstand und ein Ende machte, würde es immer so weitergehen.

Erstes Buch Der Atem des Kirgisen
    Überm Gegenhang kreisten die Adler. Doch das wäre noch kein Hinweis gewesen, in diesen Gebirgen kreisten sie immer. Selbst daß der Esel zunehmend scheute, endgültig bockte, als er die Hängebrücke erreichte, erlebte Kaufner nicht das erste Mal. Die Brücken hatten ihm selber schon manches abgefordert; diese hier – am Ende der Schlucht, wo der Weg eine Spitzkehre machte – bestand bloß aus zwei straffen Stahlseilen, übers talwärts schießende Wasser gespannt, und einigen Brettern, die in loser Folge quer darüberlagen.
    Niemals zuvor hatte Kaufner solch wütende Wasser gesehen wie in diesen gottverlaßnen Tadschikengebirgen. Auch heute hatte er sie brüllen hören, lange bevor die Schlucht erreicht war, ein gleichmäßig dunkles Donnern. Spätestens mit Eintritt in die Schlucht wäre es ihm früher bang geworden, bang vor dem schieren Element, wie’s voll Haß hinabstürzte, weil die Berge in diesem Land viel zu steil aneinandergefügt und die Schluchten viel zu eng waren, die Felsbrocken viel zu groß, die sich an ihrem Grund verkeilt. Kaufner, mit seinen achtundfünfzig Jahren ohnehin einer, den so schnell nichts mehr schrecken konnte, hatte sich daran gewöhnt, er kannte die Sturzbäche seit Monaten, die Brücken, die sofort zu schwingen begannen, wenn man sie betrat.
    Der Esel bockte nahezu bei jeder dieser Brücken, bei Bächen und Flüssen nicht minder, wenn er hineinsollte, um einen Übergang zu suchen. Eiskalt waren die Wasser und brutal, man brauchte kein Esel zu sein, um davor Respekt zu haben. Odina schlug ihn mit dem Stock, dann mit der flachen Hand, beschwor ihn, »Paa-tschup!«, beschimpfte ihn, »Jech!«, umfaßte ihn plötzlich mit festem Griff von hinten, drückte sich an ihn, preßte ihn mit den Hüften ein paar Zentimeter voran, ließ ab, wischte sich die Stirn. Verrutschte das Gepäck, »Tschee!«, zog die Gurte fester, »Schusch!«, immer auf den Esel einredend.
    Kaufner, der zu dem Jungen aufgeschlossen hatte, nützte die Gelegenheit, den Rucksack abzuwerfen. Verfluchter Weg! Der kaum mehr war als eine Abfolge an Wegmarken im Fels, ein Schäferpfad, von vertrockneten Schafsköteln markiert und vertrockneten Gräsern und Disteln. Seit Stunden waren sie die Schlucht bergauf geklettert, auf Tadschikisch hieß sie angeblich
Das Tal, in dem nichts ist,
nicht mal zu Mittag hatten sie ordentlich gerastet, weil … es anders

Weitere Kostenlose Bücher