Historical Weihnachten Band 01: Das Geschenk der heiligen Nacht / Die Winterbraut / Licht der Hoffnung
jetzt sofort zurückkehren konnte.
„Sir“, sagte sie.
Als er nicht reagierte, brüllte sie: „Sir!“
Wieder nahm er von ihr keine Notiz, sondern konzentrierte sich auf den dunklen Weg vor ihnen. Das Pferd galoppierte unermüdlich weiter, sodass sie sich immer mehr von der Burg entfernten. Abrupt riss Joan ihren Arm nach hinten und rammte dem Mann hinter ihr den Ellbogen in den Leib.
Das Pferd machte im gleichen Moment einen Fehltritt, als ihr Entführer ein leises Ächzen ausstieß. „Hört auf damit“, war jedoch das Einzige, was er dazu sagte.
Dann ritten sie auch schon weiter. Da Joan sich mit Männern auskannte, wusste sie, dass sie erst dann anhalten würden, wenn er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt. Sollte doch der Teufel seine Zehen verfaulen lassen! Sie überlegte, ob sie sich vom Pferd fallen lassen sollte, aber sie trug sich nicht mit Selbstmordgedanken, sondern war nur verängstigt und verärgert zugleich.
Was war das nur für ein törichtes Vorhaben, sie zu verschleppen! Andererseits war die ganze blutrünstige Fehde zwischen den Familien de Graves und de Montelan nichts anderes als rundweg töricht. Über Generationen hinweg hatte sie zahllose Menschenleben gekostet, und der ganze Landstrich war deswegen gespalten – und alles nur wegen eines Stücks Stoff, das man während des ersten Kreuzzugs mit nach Jerusalem genommen hatte.
In den Wochen seit ihrer Ankunft in Woldingham hatte sie von ihrer Cousine Nicolette, der sie eine Gefährtin sein sollte, alles über die verruchte, ehrlose Familie de Graves erfahren. Angeblich trugen die de Graves die Schuld an allem – angefangen beim Diebstahl des Banners bis hin zu einem Fluch, mit dem im letzten August die Schafe von Woldingham belegt worden waren. Vielleicht trafen diese Geschichten ja zu, aber Joan war davon nicht so ganz überzeugt, was vor allem mit dem gegenwärtigen Oberhaupt der Familie de Graves zu tun hatte.
Nicht, dass sie dem berühmten Edmund de Graves je begegnet wäre, aber ganz England hatte vom Goldenen Löwen gehört – schön wie St. Michael, tapfer wie St.
George, Beschützer der Schwachen, Verteidiger des Rechts, Richter über alle, die Böses taten … Man erzählte sich Legenden über ihn, Troubadoure lobpreisten ihn in ihren Liedern.
Der Goldene Löwe war der Sohn des ebenso berühmten Silbernen Löwen – Remi de Graves, ein mächtiger Krieger und der Berater des Königs. Lord Edmund war von klein auf von den besten Lehrern und Kriegern unterrichtet worden, darunter auch der fast schon mythische Almar de Font, ein bekannter Held aus eigenem Recht. Mit sechzehn Jahren hatte der Goldene Löwe bei einem schillernden Turnier den Sieg davongetragen, mit siebzehn kämpfte er wahrhaft meisterlich im Krieg gegen Frankreich. Mit achtzehn hob er ganz allein ein Nest von Gesetzlosen aus, die die Gegend rund um eines seiner Anwesen in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Es war durchaus möglich, dass ein de Graves vor vielen Generationen einem de Montelan das Banner abspenstig gemacht hatte, aber der Goldene Löwe konnte mit solchen Rivalitäten und Rachegelüsten wohl kaum etwas zu tun haben.
Wenn de Graves aber nicht der Hintermann war, in wessen Hände war sie
dann
geraten?
Wieder brachte der Mann sein Pferd abrupt zum Stehen, wobei er sich gegen ihren Rücken drückte. Wer immer ihr Entführer war, es handelte sich bei ihm um einen exzellenten Reiter, da er dieses feurige, kraftvolle und ungestüme Tier allein mit dem Seil und dem Druck seiner Schenkel beherrschte.
„Ruhig, Thor“, murmelte der Mann und beugte sich über Joan hinweg nach vorn, um den Hals des Pferdes zu tätscheln. Dabei presste er seine muskulöse Brust so fest gegen sie, dass sie das Gefühl hatte, zerquetscht zu werden, und daher schwach protestierte.
Er setzte sich aufrecht hin. „Verzeiht mir, Lady.“
„Nun, Sir“, gab sie zurück, bereit, mit ihm zu diskutieren, damit er sie endlich freiließ.
Doch er erwiderte, sie solle warten, und wandte sich den anderen dunklen Reitern zu, die sich um ihn scharten. Jeder Atemhauch stieg als kleine weiße Wolke in der kalten Nachtluft auf.
Zu ihrer eigenen Verwunderung und Verärgerung wartete Joan tatsächlich ab, was nun geschehen würde. Sie musterte das halbe Dutzend Männer um sie herum und suchte nach Hinweisen auf ihre Zugehörigkeit. Keiner von ihnen trug irgendeine Art von Abzeichen, und vor der in silbernes Mondlicht getauchten Waldlandschaft wirkten sie so stumm wie Schatten.
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