Höllenengel
dafür, dass er die
Auffassungsgabe dieser großäugigen jungen Frau in
Zweifel gezogen hatte. Er selbst war es, der geistig
zurückgeblieben war.
»Doch, natürlich«, sagte er. »Ich verstehe
nicht, wieso ich nicht selbst darauf gekommen
bin.«
»Bitte sehr«, sagte Willem und hob einen Telefonapparat
auf die Theke der Rezeption. »Bitte rufen Sie sie an. Ich bin
sicher, dass es sich nur um ein kleines Missverständnis
handelt.«
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dachte Víkingur,
als er die Mobilnummer eingab. Werde ich alt? Wie gut, dass keiner
weiß, dass ich mich Polizist schimpfe.
Der Anruf blieb erfolglos. Eine Computerstimme wie aus einem weit
entfernten leeren Raum teilte ihm mit, dass Þórhildur
entweder außerhalb des Versorgungsgebiets sei oder ihr
Telefon abgeschaltet habe.
Þórhildur hatte ihr Telefon noch nie abgeschaltet. Sie
war nahezu besessen davon, es immer dabeizuhaben, um ständig
erreichbar zu sein.
»Wenn ich ein Handy gehabt hätte, als ich mich mit dem
Auto überschlagen habe, hätte ich wenigstens Bescheid
geben können«, hatte sie einmal zu ihm gesagt.
»Ich will nicht noch einmal den Kontakt abreißen
lassen.«
»Sie macht das Telefon nie aus«, sagte Víkingur
und legte den Hörer auf.
»Warum antwortet sie dann nicht?«, fragte die junge
Frau.
»Weil das Telefon abgeschaltet ist«, erwiderte
Víkingur.
Er konnte es ihren großen Augen ansehen, dass sie ihn
für nicht ganz richtig im Kopf hielt.
»Sie sind sich also sicher, dass sie nicht oben in Ihrem
Zimmer ist?«, fragte Willem vorsichtig und fügte hinzu:
»Und auch keine Nachricht?«
Víkingur sah ihn an, ohne zu antworten.
»Ich könnte hochflitzen und schauen, ob ich eine
Nachricht entdecke«, bot Willem an.
»Wenn Sie wollen«, sagte Víkingur. »Ich
werde mich hinsetzen und hier unten ein Weilchen
warten.«
Er nahm auf einem großen Sofa Platz, das dem Hoteleingang
genau gegenüberstand. Ohne aufzusehen hörte er, wie die
beiden hinter ihm leise miteinander sprachen.
Dann Schritte. Die Türen des Aufzugs öffneten und
schlossen sich.
Sie wollten offenbar ausschließen, es mit einem
geisteskranken Mann zu tun zu haben, der behauptete, seine Frau sei
verschwunden, während diese tief schlief. Möglicherweise
hielten sie ihn für gefährlich, vielleicht hatte er der
Frau etwas angetan und sie war entweder geflohen oder lag
bewusstlos oben im Hotelzimmer.
Es war ihr Job, ihren Mitmenschen das allerschlimmste
zuzutrauen.
Sein Job auch.
Schneller als erwartet kam der Lift wieder. Víkingur sah auf
und sah Willem heraustreten. Der lächelte entschuldigend,
senkte den Kopf und streckte die Hände so aus, dass die leeren
Handflächen zu Víkingur wiesen. Keine Frau im
Hotelzimmer. Keine Nachricht.
*****
Nordpol sah auf seinem GPS-Gerät, dass er nur noch etwa drei
Kilometer bis zu diesem Rebase-irgendwas laufen musste.
Die Stiefel verursachten ihm Schmerzen. Was war das für ein
Quatsch, allen zu befehlen, in diesen vorsintflutlichen Stiefeln
umherzulaufen?
Nordpol sah die Notwendigkeit ein, Befehle zu befolgen und sich
einer Führung unterzuordnen. Nicht zuletzt, weil Ulrich ihm
mitgeteilt hatte, dass Karl seine Schulden in Höhe von
zehntausend Euro übernehmen würde, und das für einen
Gelegenheitsjob, den auch ein beliebiger Pfadfindertrupp würde
erledigen können. Andererseits hatte er nicht damit gerechnet,
dass er seine guten Schuhe gegen ungeeignete Latschen eintauschen
musste, um sich damit so schnell wie möglich durch Sümpfe
und Wälder zu bewegen, als Ein-Mann-Vorhut vor einem
Zwei-Mann-Regiment.
Sicher glaubte er an die Sache und all das, aber der arrogante
Wicht, der glaubte, diese Aktion zu befehligen, war offenbar
größenwahnsinnig geworden und wollte durch idiotische
Anweisungen seine Vorrangstellung demonstrieren.
Nordpol hielt an und nahm den Rucksack ab. Er war nicht außer
Atem, obwohl er sich schnell bewegt und angenehm geschwitzt hatte.
Er setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Buche und
öffnete den Rucksack. Nahm seine Laufschuhe heraus und
löste die Schnürsenkel der schweren Stiefel. Er war kurz
davor, diese blöden Schuhe an einen Ast zu hängen,
für den Fall, dass der Führer Karl hinter ihm denselben
Weg einschlagen würde. Er konnte sich jedoch
zurückhalten. Bloß keine Verachtung zeigen. Lieber
nichts sagen und trotzdem sein eigenes Ding machen. Vernunft walten
lassen.
Nordpol rieb sich die Füße. Allem Anschein nach war es
höchste Zeit, sich vernünftiges
Weitere Kostenlose Bücher