Höllenengel
als gutes Ergebnis, wenn die Hälfte dieses Betrags in den
Taschen der Hersteller landete.
Wegen der Saufgelage, die die Johannisnachtfeiern in Estland
normalerweise begleiteten, hatte die Chemikerin beschlossen, mit
der nächsten Inbetriebnahme der Produktionszeilen bis zum
folgenden Tag zu warten. Die letzte Stufe im Produktionszyklus war,
den Stoff aller drei Zeilen zu mischen, in einem Trockenschrank zu
trocknen und ihn kristallisieren zu lassen.
Am Trockenschrank saß diese Nacht Baldur Jónsson, ein
Isländer, der von Beginn an als eine Art Vertrauensmann des
isländischen Besitzers in der Produktion gearbeitet hatte.
Baldur war früher Seemann auf einem Trawler gewesen, er war
verrückt nach Büchern und nutzte jede sich bietende
Gelegenheit, um zu lesen. Er war wählerisch, was seinen
Lesestoff betraf, und interessierte sich nicht für
irgendwelchen Romanfirlefanz, sondern las nur Bücher über
tatsächliche Ereignisse und hatte am meisten Freude an den
Biographien vom Schicksal gebeutelter Prominenter. Seine
Lieblingsbücher waren >Hitlers letzte Tage< des
britischen Historikers Hugh Redwald Trevor-Roper und das Buch von
Maurice Lever über Donatien Alphonse François, besser
bekannt als Marquis de Sade.
In dieser Nacht hatte Baldur ein Buch über den Gründer
der Oakland-Abteilung der Hells Angels, Sonny Barger, gelesen, das
von Keith und Kent Zimmermann verfasst wurde und den Titel
>Hell's Angel< trug, Höllenengel, und er fand, dass es
die Hetze und Ungerechtigkeit, die ein freier Geist ertragen muss,
treffend beschrieb. Es war warm in der Nähe des
Trockenschranks und sein bester Freund lag zu seinen
Füßen. Das war Vampír, der zur Rasse der
deutschen Schäferhunde gehörte. In der Luft lag der
starke Geruch von entflammbaren Stoffen, die bei der Trocknung von
Amphetamin freigesetzt werden. Vampír war an diesen Geruch
gewöhnt, seit er denken konnte, und mochte ihn. Normalerweise
wurde er an Trocknungstagen von einer angenehmen Trägheit
befallen. Er döste stets in der Nähe des Trockenschranks
und seine Augenlider zitterten jedes Mal, wenn sein Besitzer mit
den Zähnen knirschte. Das war Baldurs Tick, von dem manche
sagten, er stamme vom zu starken Konsum der produzierten
Ware.
In der Wärme des Trockenschranks träumte Baldur davon,
eine eigene Firma zu gründen. Er kannte den gesamten
Produktionszyklus in- und auswendig und wusste haargenau, wie man
am besten an die nötigen Rohstoffe kam. Er wusste auch, dass
es in den meisten Ostblockstaaten ein Überangebot an
Akademikern gab, sodass es kein Problem sein dürfte, einen
guten Chemiker ausfindig zu machen, der für ein
anständiges Gehalt in Dollar als Produktionsleiter fungieren
würde, statt für fünftausend estnische Kronen im
Monat dahinzuvegetieren.
Auch ein kleines Labor mit nur einer Produktionszeile, das nur etwa
ein Kilo pro Woche produzierte, könnte ihn in kurzer Zeit zum
Multimillionär machen. Zweiundfünfzig Kilo reinen
Amphetamins eins zu eins mit Traubenzucker gemischt, macht
einhundertundvier Kilo im Jahr zum Preis von, sagen wir, vier
Millionen Kronen für das Kilo. Das ergäbe vierhundert
Millionen im Jahr, und das fünf Jahre lang. Zwei Milliarden.
Die Hälfte davon ginge für Rohstoffe drauf, für
Löhne, Bestechungen und overhead . Bliebe eine Milliarde
übrig, die spielend bis zu seinem Todestag für alle
notwendigen Dinge in seinem Leben reichen würde. Selbst wenn
er hundert Jahre alt würde.
Bei dem Gedanken an ein ruhiges Leben, bei dem es ihm an nichts
fehlen würde, knirschte Baldur so wahnsinnig mit den
Zähnen, dass Vampír die Augen öffnete und seinen
Herrn anschaute, wie er sich weißen Schaum aus den
Mundwinkeln leckte. Von außen drang ein Geräusch von
etwas Zerbrechendem herein, so, wie wenn man auf einen Zweig tritt.
Vampír spitzte die Ohren und winselte leise. Manchmal durfte
er hinaus und frei im Wald umherlaufen. Am schönsten war es,
die Hirsche zu überraschen und hinter ihnen
herzujagen.
»Ach, sei still, mein Freund«, sagte Baldur, der sich
durch das Winseln des Hundes nicht von seinen Berechnungen abhalten
lassen wollte.
Tatsächlich war es kein Reh, das auf den Zweig getreten war,
sondern Nordpol, der den Waldrand erreicht hatte und die
Gebäude mit seinem Nachtsichtfernglas be trachtete.
Es war Viertel vor drei.
*****
Víkingur war sehr unruhig geworden. Es war mittlerweile
schon weit nach Mitternacht und Þórhildur ließ
sich nicht blicken. Was nur eins bedeuten konnte. Ihr musste
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