Höllenengel
Gedanken waren ohne
Zusammenhang. Vertrauen und Sicherheit, in vielen Jahren
entstanden, waren plötzlich wie weggeweht und
hinterließen Unsicherheit und Furcht.
Er steckte seinen Kopf wieder in das Auto.
»Komm jetzt, liebe Þórhildur. Bitte, Schatz. Wir
stehen hier und warten auf dich.«
Er streckte sich hinein, konnte ihre Hand ergreifen und zog sie zu
sich. Sie leistete keinen Widerstand, sodass er die Gelegenheit
nutzte, um sie mit einem Ruck zur Tür zu ziehen, dann beugte
er sich hinab und nahm sie, wie der Bräutigam seine Braut, auf
den Arm.
»Was ist los? Wieso trägst du mich?«, murmelte
sie, nicht unfreundlich. »Glaubst du, ich kann nicht selbst
laufen?«
»Doch, aber ich möchte dich dennoch stützen«,
antwortete Víkingur und wandte sich an Willem.
»Reichen Sie mir bitte ihre Handtasche? Ich werde sie
hochbringen. Darf ich Sie bitten, das Taxi zu bezahlen und die
Summe auf meine Rechnung zu setzen?«
Willem reichte ihm die Tasche und sagte: »Er möchte
einhundertfünfzig Euro für die Reinigung des Wagens
haben. Er sagt, es wird schwer, den Geruch
loszuwerden.«
»Würden Sie das mit ihm regeln?«
»Selbstverständlich.«
Víkingur stand der Sinn nicht nach Feilschen. Er machte sich
mit seiner Bürde auf den Weg zum Aufzug. Willem lief neben ihm
her und drückte auf den Liftknopf.
»Soll ich mit hochfahren, um zu
öffnen?«
»Nein, danke. Das ist nicht nötig. Ich komme
zurecht.«
Willem streckte sich in den Lift hinein und drückte auf den
Knopf.
»Gute Nacht«, sagte er, und die Tür schloss
sich.
Was er auf dem Weg nach unten im Spiegel gesehen hatte, war ein
Fest im Vergleich zu dem Anblick, der sich ihm auf dem Weg nach
oben bot: ein Mann in mittleren Jahren, zerzaust und mit
sorgenvollem Blick, mit einer sturzbetrunkenen Frau in den
Armen.
Þórhildur ruhte kraftlos wie ein Waschlappen in seinen
Armen. Sie wiegt achtundfünfzig Kilo, dachte er und bemerkte,
dass sie barfuß war und ihre Füße
schmutzig.
Er wusste nicht, ob sie schlief oder nur so tat.
Sieben
Víkingur legte Þórhildur auf das Bett und
begann sie ausziehen. Sie schien wie in einem tiefen Schlaf. Ihre
helle Sommerjacke war mit Flecken übersät. Wo war diese
Frau gewesen?
Er breitete die Decke vorsichtig über sie und strich ihr das
Haar aus der Stirn. Sie blieb eine kurze Zeit auf dem Rücken
liegen, wälzte sich dann auf die Seite und wickelte sich in
die Decke ein.
Víkingur setzte sich auf einen Stuhl am Bett und versuchte
seine Gedanken zu ordnen. Nichts hätte ihn mehr
überraschen können als das, was geschehen war.
Natürlich war ihm klar gewesen, dass auch die Abstinenz von
Menschen, die seit Jahren nichts mehr getrunken haben, Risse
bekommen kann. Dennoch wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass
Þórhildur sich jemals wieder betrinken
würde.
Was für ein Unsinn, dachte er. Þórhildur ist
natürlich ein Alkoholiker wie jeder andere. Man erhebt seine
eigene Frau einfach zu etwas Höherem. Glaubt, dass sie
einzigartig und anders als alle anderen Menschen ist. Vielleicht
sind auch nicht alle Alkoholiker gleich, sondern die Krankheit
selbst, die Abhängigkeit, nimmt alle in denselben
Würgegriff. Menschen sind verschieden, aber die Krankheit
macht keinen Unterschied zwischen uns.
Er hörte ein Rascheln und sah, dass Þórhildur
aufgestanden war. An die Wand gestützt, ging sie vorsichtig
Schritt für Schritt zum Fenster, griff nach den Vorhängen
und zog daran.
Er stand auf und ging zu ihr.
»Was ist los, meine Liebe? Was möchtest
du?«
Sie hatte die Augen halb geschlossen und nuschelte: »Hier ist
doch eine Toilette?«
»Sie ist da vorne«, sagte er, nahm sie bei den
Schultern und brachte sie bis zur Tür des Badezimmers. Als er
sich anschickte, ihr hineinzufolgen, hielt sie inne und raunte:
»Willst du mit mir auf die Toilette gehen?«
»Ich will dir nur helfen«, sagte er. »Dich
stützen.«
»Niemand muss mich stützen«, sagte sie und
drückte die Tür zu.
Er blieb davor stehen und wartete. Hörte, wie sie den
Wasserhahn aufdrehte. Im Kulturbeutel kramte. Die elektrische
Zahnbürste anmachte. Wie ihr mit Geklimper etwas aus der Hand
ins Waschbecken fiel. Nach ziemlich langer Zeit machte sie die
Zahnbürste aus. Er legte das Ohr an die Tür. Kein
Laut.
»Ist auch alles in Ordnung?«, rief er
halblaut.
Dann hörte man etwas zu Boden plumpsen. Sie war anscheinend
umgefallen.
Schnell öffnete er die Tür. Þórhildur lag
auf dem Boden neben der Toilette. Die Unterhose war auf
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