Hoellenengel
hieß.
Essdinger.«
»Erdinger. Der Amerikaner sagte, es wäre viel besser als
dieses Clausthaler, das alle Alkoholiker trinken.«
»War er auch ein trockener Alkoholiker, dieser
Amerikaner?«
»Hör mal«, sagte sie, »ist mit dir noch
alles in Ordnung? Mir ist gestern etwas passiert und ich habe
selbst noch nicht ganz verstanden, was. Und jetzt bedrängst du
mich. Was ist hier eigentlich los? Habe ich vielleicht Gesetze
gebrochen oder was?«
»Ich mache mir einfach Sorgen um dich«, sagte
Víkingur. »Aber wir müssen jetzt nicht weiter
darüber reden, wenn du nicht willst.«
»Nur damit du Bescheid weißt: Ich weiß sehr gut,
dass ich über nichts reden muss, wenn ich nicht will. Ich
dachte, wir sind hierhergekommen, um nach Magnús zu suchen,
und das Einzige, was dir einfällt, ist, uns hier von der
Polizei von einem Leichenschauhaus zum anderen eskortieren zu
lassen. Was ich gemacht habe, war, dass ich rausgegangen bin und
versucht habe, jemanden zu finden, der uns auf eine Spur bringen
kann. Währenddessen warst du draußen und hast dich mit
irgendeinem von deinen Polizeikumpels amüsiert. Herzlichen
Dank für die Hilfe.« Víkingur spürte, dass
das Gespräch in eine Sackgasse geraten war. Seine Frau war
mittlerweile aufgebracht.
Er konnte sich nicht
streiten. Hatte diese Fähigkeit in ihrer Ehe bisher nie
gebraucht. Þórhildur war offensichtlich aus dem
Gleichgewicht geraten. Am vernünftigsten wäre es, zu
versuchen, sie zu beruhigen. Er wollte nicht der Sündenbock
für ihren Kummer und ihr Unwohlsein werden.
»Ja, entschuldige, Liebling. Allerdings warst es du selbst,
die nicht mitkommen wollte.«
»Ich bin hierhergekommen, um meinen Jungen zu finden
nicht, um in Restaurants zu sitzen.«
Jähzorn, Sarkasmus und Verbitterung hatte Víkingur von
seiner Frau bislang nicht zu spüren bekommen. Sie stand in
Abwehrhaltung da und schaute ihn feindselig an.
In Gedanken versuchte er zurückzuverfolgen, was er gesagt oder
getan hatte, um diese übertriebene Reaktion zu provozieren. Er
hatte gefragt, ob die Minibar sie in Versuchung geführt
hätte. Die Reaktion auf diese Frage waren Zorn und Verleugnung
gewesen.
Er spielte mit dem Gedanken, die Tür des Kühlschranks zu
öffnen, Þórhildur auf die leeren Fächer
hinzuweisen und sie zu bitten, das Gespräch noch einmal
aufzunehmen. In aller Ruhe mit ihr zu reden. Ihr zu verstehen zu
geben, dass er sie keineswegs hatte beschuldigen wollen.
Dass er nur versuchte, zu verstehen, was mit ihr geschehen
sei.
Keine gute Idee.
Wenn er ihr vor Augen führte, dass sie die gesamte Minibar
geleert hatte, würde er ihr nur ihre Lügen reinreiben,
und vielleicht war ja auch alles gegen ihren guten Willen
geschehen. Eine unausgesprochene Wahrheit richtet keinen Schaden
an. Aber eine Lüge tut das.
Víkingur schwieg. Er wusste nicht, was er sagen
sollte.
Elf
Glámur ähnelte seinem Namensvetter, der
schwedischstämmigen Spukgestalt aus der Saga vom starken
Grettir, in der Hinsicht, dass er am liebsten nachts unterwegs war.
Er war von Natur aus ein Langschläfer, der gern bis in den Tag
hinein döste und in einem tranceartigen Zustand an der Grenze
zwischen zwei Welten ruhte, zwischen Schlaf und Wachsein. An diesem
Morgen drang ein quälendes Hungergefühl wie eine falsche
Note in das feine Zusammenspiel der wachen Sinne und des
schlafenden Bewusstseins. Beim ersten Hungerpfeil war er hellwach
und spürte die Impulse seiner Nerven, die ihm
bestätigten, dass seine Verdauung wieder in Ordnung
war.
Er war gesundheitlich empfindlich und vertrug Autofahrten schlecht.
Ein einstündiger Kurztrip nach Þingvellir reichte, um
seine Verdauung durcheinanderzubringen und Übelkeit,
Appetitlosigkeit und sogar Verstopfung zu verursachen.
Glámur fand die regelmäßigen Wochenendfahrten
grauenhaft und verabscheute jene Tierspezies, die ein primitives
Vergnügen daran hatten, sich in Autos herumzutreiben,
namentlich Menschen und Hunde. Glámur selbst gehörte
zur Spezies der Katzen.
Obwohl es schon spät am Morgen war, schliefen die Menschen im
Sommerhäuschen noch fest; das Ehepaar Ásdís
Ólafsdóttir und Hervar Guðmannsson, der Verleger,
hatte bis spät in die Nacht eine DVD über einen
blutrünstigen Kannibalen geschaut. Die beiden waren wie
Glámur ganz versessen darauf, sich zu ihrem Vergnügen
die Sinne mit Blut zu vernebeln. In ihrem Fall war Sehen der Sinn,
der am leichtesten zu kitzeln war. Bei Glámur war es der
Geruchssinn. Wahrscheinlich hatten sie
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