Hoellenfeuer
zielstrebig auf die Mitte des Ortes zu, wo sich die mittelalterliche Kirche von St. Andrews erhob. Doch erst, als sie unmittelbar vor ihr standen, wurde Eleanor sich des mächtigen Baus in all seiner Größe bewusst. Strattons Kirche war ein romanischer Bau aus der Zeit der Normannen, stark und abweisend. Eher eine Festung, denn ein Gotteshaus. Oberhalb des mächtigen Eingangsportals hingen steinerne Wasserspeier, deren Köpfe die Fratzen von Dämonen darstellten und um den Rundbogen der Tür zog sich ein steinernes Relief, das den mittelalterlichen Bewohnern des Ortes die Strafen der Hölle zeigte.
Trotz Raphaels Hand schauderte Eleanor bei diesem Anblick. Sah so die Hölle für die Toten aus? Eine Welt, beherrscht von Dämonen, die sich den Seelen der Sünder offen zeigten und sie quälten und in ewige Angst versetzten? Nach den Ereignissen der letzten Stunden und ihrer nächtlichen Begegnung mit Samael begann Eleanor die Existenz der Hölle ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die Menschen des Mittelalters hatten daran geglaubt, aus vollem Herzen und mit all ihrer Kraft. Für sie hatte es keine Zweifel gegeben.
„Hab keine Furcht “, erklang Raphaels Stimme wie von ferne. „An diesem Ort wird dir nichts geschehen.“
Dann griff er nach dem großen, schmiedeeisernen Türring und zog die schwere Eichentür auf. Sie schlüpften in die Dunkelheit des Gotteshauses und Raphael schloss die Tür hinter ihnen. Das Kirchenschiff lag in beinahe vollkommener Finsternis, allein auf dem Altar brannte eine ewige Kerze und kämpfte mit ihrem Licht gegen die Dunkelheit an, die von allen Seiten auf sie eindrang. Es roch muffig nach Kerzenrauch und dem staubigen Holz des alten Kirchengestühls.
Langsam gingen die beiden nun durch den Mittelgang des Kirchenschiffes auf den Altar zu. Eleanor wusste später nicht mehr zu sagen warum, aber sie hatte erwartet, dass Raphael vor dem Altar niederknien oder sich bekreuzigen würde. Stattdessen blieb er aufrecht stehen. Er machte keinerlei Zeichen der Ehrerbietung oder eines Glaubensbekenntnisses, er stand einfach da und sah das kleine, flackernde Licht der Kerze an, die auf dem Altar stand.
„Ich kann nicht sagen, was auf dich zukommen wird “, sprach Raphael schließlich. „Aber ich kann dir ein paar Dinge sagen, die es dir leichter machen werden, gegenüber dem zu bestehen, was da kommen wird.“
Eleanor sah beinahe ängst lich zu Raphael empor.
„Vor allem sollst du wissen, dass es sichere Orte für dich gibt. In jedem Gotteshaus auf dieser Welt bist du geschützt. Es ist dabei gleich, ob es sich um eine Kirche, eine Moschee oder um eine Synagoge handelt. Solange es ein Ort ist, den die Menschen als heilig und nahe an Gott ansehen, wird kein gefallener Engel es wagen, sich dir dort in böser Absicht zu nähern.“
„Ich verstehe“, flüsterte Eleanor.
„Es geht dabei nicht darum, dass der Ort von Priestern, Rabbis oder Imamen geheiligt wurde “, Raphael schnaubte geringschätzig. „Es gibt auf dieser Welt keine Form von 'Magie' die einen Engel aufhalten könnte. Solcherlei Rituale bedeuten Gott wenig und auch seinen Engeln nichts. Aber selbst die bösesten unter den gefallenen Engeln haben vor Tausenden von Jahren anerkannt, dass es Gottes Willen zuwiderläuft, einen Menschen verführen zu wollen, wenn er im Gespräch mit Gott ist. Die Zwiesprache, die ihr Menschen mit Gott im Gebet sucht, ebenso wie eure Kirchenbesuche, bei denen ihr darauf vertraut, dass Gott in diesen Momenten ganz nah bei euch steht, sind zu intim, als dass wir sie stören dürften. Sie sind heilig. Wer von euch ein Gotteshaus aufsucht und dabei auf den Schutz Gottes vertraut, darf von ihm nicht enttäuscht werden. Daher wird keiner von uns euch dort ein Leid zufügen. Ihr müsstet ein Gotteshaus schon mit bösen Absichten betreten, damit Samael und die Seinen euch gegenübertreten könnten.“
„All das hat also nichts mit der Religion zu tun, der man anhängt?“, fragte Eleanor.
„Nein. Es ist unerheblich, ob du Christ, Jude oder Moslem bist. Sie alle verehren den Einen Gott, den Gott Abrahams, der die Welt erschaffen hat. Und selbst wenn sie einen gänzlich anderen Gott verehrten, Kali, Ghanesha oder wen auch immer – auch dann gilt, dass der Augenblick, da sie sich in die Obhut dieses Gottes geben, ein Moment größter Heiligkeit und Gottesvertrauen ist.“
„Das klingt, als ob die Religion eigentlich keine Rolle spielen würde “, drang Eleanors Stimme leise und zweifelnd durch die
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