Hoellenfeuer
werden. Du hast vorhin von den Kreuzzügen gesprochen. Viele Menschen haben damals so gedacht. Sie wussten genau, dass Morden falsch ist, aber sie haben sich dennoch eine Erklärung zurechtgelegt, nach der Töten unter bestimmten Umständen keine Sünde darstellen würde. Hätten sie einen Augenblick in sich hineingehört, wäre ihnen die Unsinnigkeit ihrer Logik aufgefallen. Stattdessen aber haben sie die Verantwortung für diese Entscheidung auf den Papst oder irgendwelche Mullahs abgewälzt. Das wird Gott am Tag des Jüngsten Gerichtes nicht reichen!“
„Was ist mit jenen, die Gottes Stimme von vornherein nicht gehört haben? Jenen, die ihn ignorieren?“
Raphael schnaubte. „Die sind verloren. All jene, die glauben, dass Gott ohnehin nicht existiert und man daher beliebig sündigen könnte. Aber auch sie haben diese innere Stimme vernommen, glaube mir Eleanor. Sie haben diese Stimme nur niedergebrüllt. Ein KZ-Wächter mag vielleicht keine Skrupel gehabt haben, einen Häftling zu ermorden. Doch auch solche Menschen hatten Familien, um die sie sich sorgten – Frauen, die sie liebten, Kinder, mit denen sie spielten. Der Wert des Lebens war auch ihnen durchaus bewusst! Vor allem aber der Wert ihres eigenen Lebens!“
„Ich verstehe “, erwiderte Eleanor, nachdem sie darüber nachgedacht hatte. „Wenn Samael mich also zu verderben sucht, wird er mir nicht direkt Leid antun. Er wird versuchen, mich zu etwas zu bewegen, von dem meine innere Stimme mir sagen wird, dass es falsch ist.“
„Richtig. Aber Samael ist raffiniert. Er wird es so darstellen, als ob es nur zwei Wege gäbe, die du beschreiten kannst. Beide werden dir falsch und unsicher erscheinen. Beide werden dir sündig erscheinen, aber einer von beiden wird einen Funken Gutes beinhalten. Samael wird davon ausgehen, dass du diesen der beiden Wege beschreitest, weil er dich zumindest ein wenig wird glauben lassen, dass du richtig gehandelt hast.“
„Aber wenn auch dieser Weg falsch ist, was soll ich dann tun?“, erwiderte Eleanor verzweifelt.
„Gehe den dritten Weg! Jenen, den Samael dir nicht aufgezeigt hat!“
Semper tuus sum
„Ich habe Angst, Raphael“, bekannte Eleanor an diesem Nachmittag, während sie gemeinsam durch den Park von Stratton Hall gingen. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und lange Schatten tauchten den Park in ein diffuses Zwielicht.
„Angst? Wovor?“, fragte Raphael. „Vor Samael?“
„Ja. Ich habe einfach keine Vorstellung von dem, was mich erwartet. Ich kann ja nicht einmal sicher sein, dass ich Samael überhaupt erkenne, wenn er vor mir steht.“
„Ich verstehe “, erwiderte Raphael bedächtig. „Du musst auf deine innere Stimme vertrauen. Und du wirst dabei nicht allein sein. Ich werde an deiner Seite stehen. Ich werde nicht zulassen, dass er oder einer seiner Gefolgsleute dich ins Verderben stürzen!“
„Das wirst du?“. Eleanor blickte zu Raphael auf und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Raphael blieb mitten auf dem Weg stehen und sah sie ernst an. Jedes Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. „Ja, das werde ich“, sagte er. „Das werde ich...“
Langsam nahm er ihre Hände in die seinen und hielt sie fest. Eine Woge des Glücks und der Zuversicht strömte durch ihren Körper und in diesem Augenblick hätte Eleanor alles darum gegeben, Raphael zu küssen. Doch sie tat es nicht.
An diesem Abend ging Eleanor spät zu Bett. Die Gedanken tobten durch ihren Kopf und nicht ein Einziger handelte von Samael. Alle drehten sich um Raphael.
Sie hatte allein zu Abend gegessen. Nicht im großen Speisesaal, sondern in ihrem Zimmer, da sie wusste, dass Raphael nicht kommen würde.
Jetzt saß sie wieder allein in ihren vier Wänden und fühlte sich einsam. Es waren nicht nur seine seltenen Berührungen, die sie in diesem Augenblick vermisste. Schon sein Anblick war beruhigend und löste in ihr das Gefühl von Geborgenheit aus. Eleanor wunderte sich, dass Samael, obgleich auch er doch ein Engel war, dieses Gefühl nicht in ihr ausgelöst hatte. Bei ihm hatte sie nur Zorn und Hass gespürt. Bösartigkeit und Leere. Offenbar war Samael nicht daran gelegen gewesen, so auf Eleanor zu wirken. Dass er es gekonnt hätte, bezweifelte sie hingegen nicht.
Was Raphael wohl in diesem Moment machte? Lief er ruhelos in seinem Zimmer auf und ab und dachte über diesen Tag nach? Nein, das war nicht wahrscheinlich. Er war ein Engel, sicher wäre er über solch eine innere Unruhe erhaben. Eleanor
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