Hoellenpforte
schien größer und größer zu werden, je näher er Scarlett kam. Schließlich füllte er ihr ganzes Gesichtsfeld aus. Und dann passierte alles auf einmal.
Aidan schrie auf. Der Fahrer riss hektisch das Lenkrad herum.
Der Lieferwagen geriet in gefährliche Schräglage. Und Scarlett wurde vorwärtsgestoßen, denn etwas – oder jemand – rammte mit unglaublicher Wucht ihren Rücken. Sie wollte aufschreien, aber der Schlag hatte ihr den Atem genommen und ihre Knie gaben unter ihr nach. Irgendwo in ihrem Gehirn registrierte sie, dass ein Passant vom Bürgersteig gesprungen war und sie zu retten versuchte. Sein Arm lag um ihre Taille, sein Kopf und seine Schulter pressten sich in ihren Rücken. Aber wie war er so schnell zu ihr gekommen? Selbst wenn er den Lieferwagen hatte kommen sehen und sofort losgesprintet war, hätte er sie kaum rechtzeitig erreichen können. Es war beinahe, als hätte er schon vorher gewusst, was passieren würde.
Der Lieferwagen schoss vorbei und verfehlte sie nur um Zentimeter. Sie spürte sogar den warmen Luftzug im Gesicht und konnte die Abgase riechen. Sie hatte zwei Bücher unter dem Arm gehabt, ein französisches Wörterbuch und das Mathebuch, denn in diesen Fächern standen ihr noch anderthalb Stunden Hausaufgaben bevor. Doch als sie nach vorn gestoßen wurde, flogen ihre Arme unkontrolliert hoch und die Bücher segelten durch die Luft, landeten auf der Straße und rutschten über den Asphalt, als hätte sie sie mit Absicht weggeworfen. Scarlett machte es ihnen nach. Während der Mann sie noch immer festhielt, ging sie zu Boden. Einen Moment fühlte sie einen scharfen Schmerz, als sie mit einem Knie aufschlug und sich die Haut abschürfte. Hinter sich hörte sie Reifenquietschen, Hupen und dann das grässliche Krachen von Metall auf Metall. Eine Autoalarmanlage heulte los. Scarlett lag still.
Die folgenden Augenblicke, in denen absolut nichts passierte, kamen ihr vor wie eine ganze Minute. Es war fast, als hätte jemand ein Foto gemacht, es eingerahmt und den Titel »Verkehrsunfall in Dulwich« daraufgeklebt. Dann setzte sich Scarlett auf und sah sich um. Der Mann, der sie gerettet hatte, lag auf der Straße und sie erkannte nur, dass er Chinese war, um die zwanzig, mit schwarzen Haaren, Jeans und einer weiten Jacke.
Sie sah an ihm vorbei. Der weiße Lieferwagen war um eine Verkehrsinsel geschleudert worden und auf den Bürgersteig geraten, wo er ein parkendes Auto gerammt hatte. Es war dieses Auto, dessen Alarm losgegangen war. Der Fahrer des Lieferwagens hing über dem Lenkrad und seine Haare waren voller Glassplitter.
Sie schaute wieder zurück. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt – vielleicht war sie aber auch schon von Anfang an da gewesen – und Leute eilten auf sie zu, vorbei an Aidan, der wie angewurzelt dastand. Er schüttelte den Kopf, als müsste er beteuern, dass es nicht seine Schuld war. Es hatten sich auch zwanzig oder dreißig Schüler eingefunden, die Fotos mit ihren Handys machten. Ein Polizist war so schnell aufgetaucht, als wäre er durch eine Falltür im Gehsteig gekommen. Er war der Erste, der bei Scarlett ankam.
»Bist du in Ordnung? Versuch jetzt bitte nicht, dich zu bewegen…«
Scarlett ignorierte ihn. Sie stützte eine Hand auf und rappelte sich hoch. Ihr Knie brannte wie Feuer und ihre Schulter fühlte sich an, als hätte sie einen Schlag mit einem Brecheisen abbekommen, aber sie war ziemlich sicher, dass sie nicht ernsthaft verletzt war. Sie sah Aidan an und dann den weißen Lieferwagen. Ein paar Leute halfen dem Fahrer heraus und legten ihn auf den Bürgersteig. Neben ihr sprach der Polizist eindringlich in sein Funkgerät und forderte Verstärkung an.
Schließlich tauchte Aidan bei ihr auf. »Scar…?« Das war sein Name für sie. »Bist du okay?«
Sie nickte und war plötzlich den Tränen nahe, ohne zu wissen, warum. Vielleicht war es nur der Schock, das Wissen, was beinahe passiert wäre. Sie fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht und merkte erst da, wie schmutzig ihre Nägel waren und dass sie sich alle Fingerknöchel aufgeschürft hatte. Ihr Rock war auch zerrissen. Sie musste total demoliert aussehen. »Du hättest tot sein können…!« Warum sagte Aidan ihr das?
Darauf war sie auch allein gekommen.
Aber seine Worte erinnerten sie an den Mann, der sie gerettet hatte. Sie sah nach unten und stellte verblüfft fest, dass er nicht mehr da war. Im ersten Moment glaubte sie an einen Zaubertrick – dass er sich irgendwie in Luft
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