Ballade der Liebe
1. KAPITEL
London, Juli 1817
Vauxhall Gardens war nicht der Ort, den Jameson Flynn für abendliche Zerstreuungen wählen würde, hätte sein Dienstherr, der Marquess of Tannerton, seine Begleitung nicht erwünscht.
Der beliebte Londoner Vergnügungspark mit seinen Nachbildungen griechischer Tempel und chinesischer Pagoden aus Holz und Pappmaschee übte auf Flynn keinerlei Reiz aus. Auch die Besucher erschienen ihm gekünstelt und unecht, denn viele trugen Masken vor dem Gesicht, um ihre Identität zu verbergen. Niemand wollte sich zu erkennen geben, ob Herren von Rang und Reichtum oder einfaches Volk und Damen von zweifelhaftem Ruf.
„Nehmen Sie noch etwas Schinken.“ Tannerton reichte ihm die Platte mit hauchdünn geschnittenen Schinkenscheiben, eine von Vauxhalls Spezialitäten.
Der steinreiche Tanner – wie der Marquess sich gerne nennen ließ – aß mit Appetit, als diniere er in Carlton House und nicht in einem zugigen Separee unter den Arkaden. Flynn lehnte dankend ab und nippte an einem Glas Arrak, eine zu Kopf steigende Mixtur aus Zuckerrohrschnaps, Palmwein und Gewürzen, deren Wirkung den Reiz des Vergnügungsparks in seinen Augen nur geringfügig erhöhte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Marquess seine Gesellschaft suchte, wobei Flynn sich keinen falschen Illusionen hingab. Er war Tanners Sekretär, nicht sein Freund.
Ein Außenstehender hätte allerdings Mühe gehabt, zu erkennen, welcher der beiden Herren der Aristokrat war. Flynn legte großen Wert auf seine äußere Erscheinung. Er trug sein dunkelbraunes Haar stets wohlfrisiert; schwarzer Gehrock und eng anliegende Pantalons waren von tadellosem Sitz. Tanner, einige Jahre älter und dunkelblond, nahm es weniger genau mit seinem Erscheinungsbild und machte meist den Eindruck, als sei er gerade vom Pferd gestiegen.
Flynn stellte das Glas auf den Tisch. „Sie wünschten meine Begleitung gewiss nicht ohne Grund, Sir. Wann darf ich Genaueres erfahren?“
Schmunzelnd griff Tanner in die Innentasche seines Gehrocks, zog einen Zettel hervor und reichte ihn Flynn. „Werfen Sie einen Blick darauf.“
Es handelte sich um ein Programmheft, das einen Liederabend mit Orchesterbegleitung ankündigte. Die Sängerin, eine gewisse Miss Rose O’Keefe, war der neue Stern in Vauxhall Gardens.
Flynn hätte es wissen müssen. Eine Frau.
Nachdem Tanners Mission in Brüssel erfolgreich abgeschlossen war, hatte er sein gewohntes Leben in London wieder aufgenommen, das vorwiegend darin bestand, sich seichten Zerstreuungen zu widmen, dem Pferdesport, durchzechten Nächte am Spieltisch und natürlich schönen Frauen. Kaum eine von ihnen hätte dem reichen, blendend aussehenden Aristokraten ihre Gunst verweigert. Zudem eilte Tanner der Ruf voraus, seine Geliebten zu verwöhnen und nicht mit kostbaren Geschenken zu geizen. Wenn sein Interesse schwand, was unweigerlich irgendwann eintraf, konnte die jeweilige Dame sich mit einer stattlichen Abfindung über den Verlust ihres spendablen Gönners hinwegtrösten. Tanner hatte also freie Wahl im reichen Angebot von Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Opernsängerinnen.
„Ich tappe immer noch im Dunklen, nehme aber an, dass Ihr Interesse dieser Miss O’Keefe gilt. Allerdings ist mir nicht klar, wozu Sie mich brauchen.“ Wenn es um Tanners Frauen ging, bestanden Flynns Aufgaben darin, Verhandlungen mit der jeweiligen Angebeteten zu führen, finanzielle Details zu regeln und der Dame am Ende einen Abschiedsbrief zu überreichen, da Tanner hysterische Weinkrämpfe hasste.
Tanners Augen blitzten schalkhaft. „Sie werden mir helfen, die junge Dame zu erobern.“
Flynn verschluckte sich beinahe an seinem Arrak. „Ich? Seit wann brauchen Sie meine Unterstützung in Herzensangelegenheiten?“
Tanner beugte sich vor. „Diese Frau ist etwas ganz Besonderes. Bis vor Kurzem hatte noch kein Mensch von ihr gehört. Eines Abends stand sie plötzlich auf der Bühne, sang irische Lieder und verschwand anschließend auf geheimnisvolle Weise. Niemand weiß, woher sie kommt, wer sie ist. Jedenfalls scheint sie keine leichte Eroberung zu sein.“
Flynn bedachte seinen Dienstherrn mit einem skeptischen Blick.
Tanner redete unbeirrt weiter. „Pomroy und ich hörten sie vor zwei Abenden. Eine hinreißende Stimme. So etwas haben Sie noch nie erlebt, Flynn. Ich muss die Kleine kennenlernen.“ Stirnrunzelnd nahm er einen tiefen Schluck. „Leider bewacht ihr Vater sie wie ein Schießhund. Ich schaffte es nicht einmal, ihm
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