Hoerig
Intimeres gibt als den Arsch, daß man bestimmte Dinge im Leben, Verzweiflung zum Beispiel, nicht teilen kann und diese Last allein tragen muß. Du hast mir viel von deinen Verflossenen erzählt, ich dir sehr wenig von meinen. Wenn man einen Mann kennen lernt, sollte man von ihm verlangen können, daß seine Ex-Freundinnen endgültig ex sind, man sollte deren Spuren aus seinem System löschen und Fotoalben und Briefe verbrennen dürfen. Doch über den Notausgang an meinem dreißigsten Geburtstag wurde nie gesprochen; du warst gesund, und wer gesund ist, ist nicht krank genug, sich vorzustellen, daß jemand seinen Tod vorausplanen könnte, gesunde Menschen laufen nicht hinter etwas her, das früher oder später auch ohne ihr Zutun passiert.
Das Thema ist für viele ein heißes Eisen, das weiß ich, denn als ich es mit fünfzehn meinen Eltern gegenüber einmal ansprach, haben sie mich gleich ins Krankenhaus gebracht. In dem Zimmer waren noch andere Mädchen, die auch davon geredet hatten, und eine von ihnen hatte es sogar schon versucht, kann ich mich erinnern, mit hundert Aspirin. Daß sie immer noch lebte, kam mir wie ein Wunder vor, wahrscheinlich weil mich die Zahl Hundert so beeindruckte, das mußte exakt die tödliche Dosis sein, der Punkt, an dem man ins Nichts zurückkehrt, sie hatte, wie ich mich auch erinnere, viele Neide-rinnen.
Im Krankenhaus hörte ich, daß manche an der westlichen Welt krankende Mädchen es mit einer Überdosis Aspirin versuchen, andere magern so lange ab, bis sie an Unterernährung sterben. Laut Statistik dauerte Verhungern länger, war aber sicherer, Sterben in kleinen Schritten zahlte sich anscheinend langfristig aus. Außerdem führte es zu einer größeren Sichtbarkeit innerhalb der Familie, die sich neu organisieren mußte, um dem Sog des schwarzen Lochs zu widerstehen. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, wurde ich anorektisch.
Ich hörte im Krankenhaus auch, daß Jungen erfolgreicher Selbstmord verüben als Mädchen, die zu romantische Vorstellungen über das Sterben haben und deshalb öfter scheitern. So ziehen sie am Tag X ihr schönstes Kleid an und denken im voraus darüber nach, wie sie gefunden werden möchten. Sie plaudern auch viel und lassen ihre Absichten leichter durchblicken. Meist schreiben sie vorher wochenlang Briefe, kommen derweil auf andere Gedanken und verlieren schließlich den Mut, denn Schreiben bedeutet, die Umgebung teilhaben zu lassen, übrigens warnt man in den höheren Schulen Quebecs Eltern vor der Neigung ihrer Töchter zum Schreiben, wußtest du das? In einem Alter, wo Mädchen Musik hören und dazu Modemagazine lesen sollten, sei Schreiben bedenklich, es sei womöglich ein Hilferuf, die Mädchen hätten etwas zu sagen, könnten es aber nicht, das deute auf ein Kommunikationsproblem. Im Krankenhaus wurde ich in die Pädiatrie gesteckt. Anscheinend sagten alle, Ärzte, Familie, Nachbarn, Freunde und die Schule, dasselbe über mich, doch ich habe nie erfahren, was, weil es mir keiner sagte, wahrscheinlich war es »arm«, arm wie armes Mädchen, arm wie bescheuert, bedürftig, behindert. Seit dem Beginn der Moderne hat der Selbstmord seine heroische Seite verloren. Wenn mein Großvater noch lebte, würde er sagen, Selbsttötung sei heute keine Herausforderung Gottes mehr, sondern so etwas wie eine Panne; und wenn am Ende des Stricks nicht mehr die ewige Verdammnis drohe, habe man eben die Wahl.
Trotz unserer mißlungenen Rendezvous mit der Zukunft liebte meine Tante mich sehr. Wir hatten beide die gleiche große, gerade Nase, und wir waren beide von der Vorstellung angetan, daß die Toten genügend Zugriff auf die Materie hätten, um sich an den Lebenden zu rächen.
Kaum hatte sie erfahren, daß ich im Krankenhaus war, kam sie mit ihrem Tarot zu Besuch. An meinem Bett fiel ihr ein, daß ich ja hier war, weil ich sterben wollte, und wenn es ihr wieder nicht gelänge, mir aus den Karten die Zukunft zu lesen, wäre das bestimmt ein schlechtes Omen, also ließ sie ihr Herz sprechen anstelle der Karten.
Sie liebe mich wie eine Mutter, sagte sie, und daß ich ein Fall sei; ob ein besonderer oder ein hoffnungsloser, habe ich nie erfahren. Dann wollte sie jemand anders die Karten legen, weil das mitgebrachte Tarot bei so vielen Verzweifelten doch zu etwas nutze sein mußte, und verfiel in ihrem Mitleidsanfall auf das Mädchen mit den hundert Aspirin. Das große Kreuz, in dem Sonne und Mond einander gegenüberstanden, erleuchtete meine Tante, der
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