Arm und Reich
Vorwort
Was die Weltgeschichte mit einer Zwiebel gemein hat
D ieses Buch unternimmt den Versuch, die Geschichte aller Völker in den letzten 13 000 Jahren zu skizzieren. Die Frage, die es zu beantworten sucht, lautet: Warum nahm die Geschichte auf den verschiedenen Kontinenten einen so unterschiedlichen Verlauf? Wer nun zusammenzuckt, weil er meint, eine rassistische Abhandlung vor sich zu haben, sei gleich beruhigt: Wie Sie sehen werden, spielen Unterschiede zwischen menschlichen Rassen bei der Beantwortung der Frage nicht die geringste Rolle. Statt dessen geht es in diesem Buch darum, nach tieferen Ursachen für Geschichtsverläufe zu forschen und historische Kausalketten in möglichst ferne Vergangenheit zurückzuverfolgen.
Die meisten Werke, die »Weltgeschichte« oder »Universalgeschichte« im Titel führen, beschäftigen sich vornehmlich mit der Geschichte von Schriftkulturen in Eurasien und Nordafrika. Gesellschaften in anderen Teilen der Welt – Afrika südlich der Sahara, Nord- und Südamerika, südostasiatische Inselwelt, Australien, Neuguinea, Pazifikinseln – erhalten wenig Aufmerksamkeit, und in der Regel ist nur die Zeit nach ihrer Entdeckung und Unterwerfung durch Westeuropäer Gegenstand der Darstellung. Innerhalb Eurasiens erhält wiederum die Geschichte des westlichen Teils viel mehr Raum als die Geschichte Chinas, Indiens, Japans, Südostasiens und anderer östlicher Kulturen. Nur knapp wird auch das Geschehen vor dem Auftauchen der Schrift um 3000 v. Chr. abgehandelt, obwohl dieser Zeitraum 99,9 Prozent der fünf Millionen Jahre alten Geschichte unserer Spezies ausmacht.
Eine derart verengte Betrachtung der Weltgeschichte hat drei Nachteile. Der erste besteht darin, daß sich heute immer mehr Menschen auch für andere Gesellschaften als die des westlichen Eurasien interessieren. Einleuchtenderweise, muß man hinzufügen, denn immerhin repräsentieren jene »anderen« Gesellschaften das Gros der Weltbevölkerung und die überwältigende Mehrzahl der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Gruppierungen der Menschheit. Einige von ihnen gehören schon heute zu den bedeutendsten wirtschaftlichen und politischen Mächten der Welt, andere sind auf dem Weg dorthin.
Zweitens vermag eine Geschichtsschreibung, die sich auf das Geschehen seit dem Aufkommen der Schrift beschränkt, selbst demjenigen keine tieferen Einsichten zu vermitteln, der sich vor allem dafür interessiert, wie die moderne Welt geformt wurde. Schließlich war es nicht so, daß die Gesellschaften auf den verschiedenen Kontinenten bis 3000 v. Chr. auf gleichem Stand waren und westeurasische Gesellschaften dann aus heiterem Himmel die Schrift erfanden und auch in anderen Bereichen plötzlich davonpreschten. Vielmehr existierten in Eurasien und Nordafrika schon um 3000 v. Chr. Gesellschaften, die neben den Anfängen der Schrift auch zentralistische Staatswesen, Städte, Metallwerkzeuge und -waffen kannten, Haustiere als Transportmittel, Zugtiere und Lieferanten mechanischer Energie nutzten und sich von Erzeugnissen der Landwirtschaft ernährten. In den meisten oder sogar allen Regionen der übrigen Kontinente waren diese Errungenschaften zu jenem Zeitpunkt noch unbekannt; einige, aber nicht alle, kamen später in verschiedenen Teilen Nord- und Südamerikas und Afrikas südlich der Sahara auf, wenn auch erst im Laufe der nächsten 5000 Jahre; Australien blieb dagegen ein weißer Fleck. Dies allein weist schon deutlich darauf hin, daß die Wurzeln der eurasischen Vorherrschaft in der heutigen Welt in der schriftlosen Zeit vor 3000 v. Chr. zu suchen sind. (Mit eurasischer Vorherrschaft meine ich die dominierende Rolle der Gesellschaften des westlichen Eurasien sowie ihrer Ableger auf anderen Kontinenten.)
Drittens übergeht eine Geschichtsschreibung, die ihr Augenmerk nur auf das westliche Eurasien richtet, völlig die entscheidende Frage, warum ausgerechnet jene Gesellschaften so ungleich mächtiger und innovativer wurden. Für gewöhnlich werden in diesem Zusammenhang diverse unmittelbare Faktoren angeführt, etwa das Aufkommen von Merkantilismus, Kapitalismus, Wissenschaftsgeist, Technik und bösartigen Krankheitserregern, denen die Bewohner anderer Kontinente bei der Begegnung mit Westeurasiern erlagen. Doch warum bildeten sich all diese Ingredienzen der Eroberung im westlichen Eurasien heraus, in anderen Teilen der Welt aber gar nicht oder nur in geringerem Ausmaß?
Es handelt sich bei alldem um unmittelbare Faktoren, nicht
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