Hoerig
Immer wenn ich ihn las, las ich mich.
Dabei stand kaum etwas drin, nur ein paar Zeilen über die Demütigung, die du ihr zugefügt hast, ohne es zu wollen, zufällig, ungezielt und ohne es zu bemerken, was das Ganze nur noch schlimmer machte, weil Annie allein damit leben mußte. Heute weiß ich, daß sie in einem letzten Anfall von Großmut schweigend über die Ge-schehnisse im Nova hinweggehen wollte, was wir genauso machten, als wir im frühen Morgengrauen Arm in Arm zu mir nach Hause gingen. In Annies Brief ging es nicht nur um die nackte Demütigung, sondern auch um deine furchtbare Freundlichkeit, deren Grund ihr niemals klar geworden war, deine brutale Freundlichkeit, die sie durch ihre Unangemessenheit verwirrte, und den genauso brutalen Umschlag zu der Entschiedenheit, mit der du sie einfach nach Hause geschickt hast. Annie schrieb dir so, wie ich dir heute schreibe. Mein Großvater sagte, die Maßlosigkeit der Liebe sei der Grund dafür, daß die Menschen Gott verraten und ihn für alles verantwortlich machen, daß sie ihn um Verzeihung bitten, um ihn gleich darauf anzuklagen, daß er die höchste Verehrung und ebenso die schlimmsten Schmähungen erduldet.
Du hast sehr viel geredet, morgens beim Aufwachen war deine Stimme dunkel, abends war sie heller. Du hast auch die ganze Nacht im Traum geredet und manchmal Wörter erfunden, »matrione« zum Beispiel oder »fueter«, und einmal hörte ich dich sagen: »Die galosse ist aus der Übung«, und hatte dabei das Gefühl, daß du von mir sprachst.
Frauen waren dein Lieblingsthema, du hast ihr Geheimnis gewahrt, indem du versuchtest, sie zu verstehen.
Du hast über meine Freundin Josée gespottet, weil sie über reseaucontact.com, eine Kontaktbörse im Internet, einen Freund suchte; anscheinend haben sich hunderttau-sende Mitglieder so gefunden. Josée hatte die Nummer 1.115.053 und nannte sich Papillonl73; auf ihrem Steckbrief befand sich ein Foto, wo sie von unten in die Kamera schaute und sich mit der Hand durch die Haare fuhr.
Darunter stand, daß sie einen Meter siebenundsiebzig groß war, daß sie blaue Augen hatte, einen ordentlichen Brustumfang von 75 C und lange Beine; daß sie von Sex nie genug kriegen konnte und an der Uni von Montreal Wirtschaftswissenschaft unterrichtete, daß sie Kino liebte und guten Wein, Reisen und Draußensein. Im Gegenzug für ihre Jugend und Schönheit verlangte sie von den Männern, daß sie ihren Hund Rocky ertrugen, der ihr überallhin folgte. An einem Tag erhielt sie manchmal mehr als hundert Mails, die sie gar nicht alle beantworten konnte, wenn sie ihre Studenten nicht vernachlässigen wollte.
Abends, wenn wir uns langweilten, gingen wir manchmal auf reseaucontact.com, Steckbriefe lesen. Wir stellten fest, daß die Partnersuche den gleichen Mustern folgte wie die Auswahl einer Hure. Entschlossenheit gehörte zu den besonders gesuchten Merkmalen; Haupt-sache, der andere wußte, was er wollte, wie im Business.
Leute, die mit ihrer Vergangenheit nicht abgeschlossen hatten oder neurotisch waren, kamen überhaupt nicht in Frage. Meistens wurde auch von Rauchern Abstinenz verlangt, man wollte nicht nur geistig gesunde, sondern auch körperlich fitte Partner; ich habe mich oft gefragt, wer da eigentlich noch übrig blieb.
Manche trafen sich erst in einem Café, gingen dann in eine Bar und fickten schon am selben Abend, um zum Ende zu kommen, vergebliche Anstrengungen sind solchen Menschen ein Dorn im Auge. Man hatte aber auch das Recht, gleich beim ersten Treffen nein zu sagen, wenn der, dessen digitales Foto man schon tausendmal unter die Lupe genommen hatte, in Wirklichkeit nicht den Erwartungen entsprach, dann konnte man gleich aufstehen und gehen. Unter Huren nennt man das durchfallen lassen. Wenn eine Hure durchfällt, ist das immer ein Drama, auch Huren haben ihren Stolz, und Geld ändert nichts daran; für Huren sind Seiten wie reseaucontact.com Orte kostenloser Rache.
Man hatte auch das Recht zu zögern, es sich zu überlegen, sich Zeit zu nehmen, um das Für und Wider abzuwägen, bevor man eine Entscheidung traf; in unserer Zeit gehört die Bewertung, die man dem anderen aufdrückt, zur Verführung dazu. Einmal mußte ein Freier mich für nichts bezahlen, weil er zu lange gezögert hatte, und als er sich endlich zum Bleiben entschloß, war seine Stunde um. Als er weg war, dachte ich, vielleicht war ja genau das sein Vergnügen, mich warten zu lassen, ob er mich nahm oder durchfallen ließ.
Josée ist nie
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