Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)
unendlich viele, die sich in diesen kleinen Schnappschüssen hätten offenbaren können.
Vielleicht begann dies alles so, vielleicht auch nicht. Fakt ist, dass es irgendwann eine Zeit in meinem Leben gab, in der diese Gedanken ihren Lauf nahmen: »Scheiße, was ist, wenn ich auf dem Weg von a nach b sterbe?«, »Was ist, wenn ich in der Disco einen Herzinfarkt bekomme?«, »Was, wenn ich das alles nicht mehr schaffe, die Schule, dieses Date, das Spiel, dieses Telefonat?«, »Was denken die anderen, wenn sie mich so leiden, versagen oder zusammenbrechen sehen?«. Es begannen diese unsäglichen Gedanken wie: Ich schaff das alles nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus, ich muss hier raus, ich muss hier verdammtnochmalrausrausraus.
Es hat sich etwas verändert, ich habe es bereits erwähnt, etwas Grundlegendes sogar, etwas, das mich außer Tritt bringt, etwas, was mich verzweifeln lässt. Denn es ist etwas, womit niemand leicht zurande käme, niemand auf dieser Welt, obwohl ich natürlich gar nicht so viele Leute kenne, um das tatsächlich beurteilen zu können, aber es muss so sein. Diese Tatsache, dass nun auch der letzte Mensch, der Einlass in meine Wohnung erhalten hatte, einfach nicht mehr da ist, nicht mehr kommen wird, weil er nicht mehr kommen kann, nicht, weil er nicht will, sondern weil es einfach nicht möglich ist für ihn, das ist so schrecklich für mich, das ist so schwierig zu handhaben für mich, fast ein Ding der Unmöglichkeit. So wie es allerdings auch unmöglich ist, nach draußen zu gehen, Leute kennenzulernen, ein »normales« Leben zu führen, eines, wie es die anderen führen, eines, was den meisten Menschen lebenswert erscheint. Und nicht das Dahinvegetieren, zu dem ich verdammt bin, selbstverschuldet vielleicht, wer kann das schon wissen, schließlich kenne ich das WARUM meines Zustands ja nicht, vielleicht, weil es niemand wissen kann, vielleicht, weil es kein Warum gibt.
Als er das letzte Mal zu Besuch war, auf dem identischen Sofa – braunes Kunstleder, das zur Vitrine passt – wussten wir beide nicht, dass wir uns nie wieder sehen würden. Es war nicht absehbar, es war nicht erwartet, uns schien noch annähernd die Hälfte unseres Lebens vor uns zu liegen. So viel Zeit war bereits vergangen, in dieser unserer Beziehung zueinander, etwas wie eine Sandkastenliebe – wir kannten uns schon im Kindergarten, waren Nachbarskinder –, nur sehr viel komplizierter. Und es hätte jahrelang so weitergehen können, so hatten wir das geplant, wir hatten Absprachen, wir hatten uns in unserer Kompliziertheit sehr gut eingerichtet, niemand wusste von unserer Verbindung, und das war gut so, vor allem für ihn, der in einer festen Partnerschaft mit einer Frau lebte. Aber auch gut für mich, weil ich deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, eine Last, an der ich zu schwer getragen hätte, wenn es sie denn gegeben hätte, eine Last, die mir nicht aufgebürdet werden dürfte, bei all diesen Ängsten, die so schwer auf mich drücken, die mein Leben behindern, die mein Leben zur Farce werden lassen, die sich kein Mensch so recht vorstellen kann, nicht einmal er, der mein Leben auf seine Weise mit mir geteilt hatte.
Die Blauen Seiten also, so genannt wegen ihres Layouts, dem markanten eingängigen Blau, das die Seiten ziert, und die eine solch große Bewandtnis haben im Leben homosexueller Männer. Was jedem anderen unglaublich erscheinen mag, der diese Internet-Plattform nicht kennt – lange Zeit gehörte auch ich dazu, ich hatte dort kein Profil, ich wusste noch nicht, dass es so etwas gibt. Von dem die Mitglieder sagen, es sei wie ein »schwules Einwohnermeldeamt«, weil es angeblich alle mit dieser Veranlagung nutzen, und nach den ersten Informationen, die ich noch vor kurzer Zeit von ihm, meinem letzten Freund, erhalten habe, kann ich erst einmal die Sehnsüchte, die mit diesem Chatroom verbunden sind, verstehen, nachvollziehen. Die Ängste, die Wünsche, die Hoffnungen, die Freuden und die Laster, die Dinge also, die einen stundenlang in diese Sphären abtauchen, die Welt um sich herum vergessen lassen, den traurigen Alltag, den man so oder so alleine bestreiten muss, auch wenn man nicht so isoliert lebt wie ich das tue.
Es dauert ein bisschen, bis ich mich an diese Art der Kommunikation gewöhnen kann, an die aggressive Art dieser Schwulen, die sich auf diesen Blauen Seiten tummeln, an ihre demonstrativ offensiv gewählten Namen, »Los Rammlos«, »Rosablasehase«,
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