Hoffnung Blaue Seiten (German Edition)
zuwerfend, vor denen er sich ekelte. Er habe Angst, dass ihm nachgestellt werde, nicht weil er so attraktiv sei, sondern weil kleine schwule Jungs, die ihn hier sähen, auf die Idee kommen könnten, mit ihm leicht ihr Taschengeld aufzubessern. Eine Sorge, die meines Erachtens in der Regel eher die Gegenseite hat, wenn man den Texten in den Profilen von jungen Männern Glauben schenkt.
Filigranlover möchte wissen, ob ich Single bin, und nachdem ich ihm erzähle, dass mein letzter Freund verstorben sei, möchte er unbedingt wissen, woran, warum, wie lange das her sei, ob ich darüber hinweg gekommen sei, wie lange wir denn ein Paar gewesen seien – all die Fragen also, die man in so einer Situation stellt. Nicht anders als bei einem ersten Date, vermute ich, denn mein letztes Date war in einer fernen Zeit, in der man so etwas nicht direkt angesprochen hätte, in der man sehr viel verblümter von solchen Dingen sprach, wenn überhaupt. Denn die wenigsten offenbarten sich damals, oft wussten nicht einmal die besten Freunde von dieser Veranlagung, geschweige denn die Familie, es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der Homosexualität in der Öffentlichkeit, weder medial noch auf der Straße vorkam, und falls doch, ein Riesenaufschrei darauf folgte, eine soziale Ächtung, ein sozialer Tod gar.
Vielleicht hätte ich darauf vorbereitet sein können, auch meine Mutter, die im nun überzähligen, aber sinnvoll genutzten, Zimmer gelebt hatte, war überraschend verstorben. Sie wollte einkaufen gehen, nur kurz das Nötigste besorgen, so drückte sie sich aus, und dann kehrte sie nie wieder zurück in unsere gemeinsame Wohnung. Sie ließ mich hilflos zurück, alleine mit meinen Bedürfnissen, die ich oft nicht selbständig stillen konnte. Ich musste nun eine Lösung dafür finden, dass für mich eingekauft wurde, allerdings nicht von ihm, das wäre mir unangenehm gewesen, er war mein Geliebter, ich wollte das bisschen Urlaub, das mir sonst ja nicht vergönnt war, mit ihm erleben, Urlaub vom Alltag. Da wollte ich ihn nicht mit Einkaufszetteln belästigen, nicht mit Aufträgen, die er für mich bitte erledigen sollte, und schon gar nicht bei einem dieser Einkäufe für mich genauso verunfallen wie meine Mutter, die von einem Auto erfasst wurde. Etwas, was meine Ängste selbstverständlich nur noch vergrößerte, gerade zu einem Zeitpunkt, als ich mich schon fast bereit wähnte, wieder aus der Wohnung zu gehen.
Sollte ich ihm erzählen, dass mein Geliebter kurioserweise genauso von einem Auto erfasst wurde wie meine geliebte Mutter, dass er gerade genauso beim Einkaufen gewesen war wie sie? Und absurderweise etwas gekauft hatte, womit er mich überraschen wollte, was wiederum zu einer Überraschung bei seiner Frau führte, die nichts von uns gewusst hatte, die nichts von seiner bisexuellen Veranlagung ahnte, und die von den Polizisten mit dieser neuen Wahrheit konfrontiert wurde, mit diesem missbilligenden Augenbrauenhochziehen der Beamten, als sie ihr erzählten, was er in seinem Rucksack in einer Plastiktasche von einem Sexshop habe, der bekanntermaßen auf Artikel für homosexuelle Männer spezialisiert sei. Ob sie glaube, dass ein eifersüchtiger Geliebter ihn absichtlich überfahren habe, und sie immer wieder verzweifelt: »NEIN, NEIN, NEIN, NIEMALS« vor sich hin stammelte, ohne zu wissen, dass der Geliebte ihres geliebten Mannes nicht in der Lage gewesen wäre, so etwas zu tun. Und sie sich an der Hoffnung festhielt, dass er diese Gegenstände für jemand anderen besorgt hatte, was sie auch so lange noch hoffte, bis sie mehr Indizien für das Gegenteil gefunden hatte. Beim Durchkramen seiner Sachen hatte sie mich, ihren Gegenspieler, ausfindig gemacht, allerdings keinen Mumm zur direkten Konfrontation gehabt – genauso wenig wie ich das gekonnt hätte. Deswegen hatte sie mir einen langen Brief über diese Geschehnisse geschrieben, ohne den ich nicht gewusst hätte, wieso er zu unseren regelmäßigen Treffen, die fest terminiert waren, nicht erschienen war.
Filigranlover fragt mich nach meinen Ängsten, doch wie sollte ich ihm diese irrationalen Ängste erklären, die mit diesen Worthülsen nicht beschrieben werden können, mit diesen Floskeln, die aus einem Medizinbuch stammen, die so blutleer sind, so wenig das beschreiben, was ich in diesen Momenten fühle, denke, spüre. Angst, die Kontrolle zu verlieren – Angst, völlig alleine und hilflos zu sein – Angst, einen Herzanfall zu erleiden – Angst,
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