Holundermond
gehen. Hastig drehte sie sich um und trat auf eine altersschwache Holzdiele, die knarrend unter ihrem Fuß nachgab.
Jan fuhr herum. »Nele, ich dachte du schläfst längst. Wie lange stehst du schon da?«
Nele atmete tief durch und packte das Tablett fest mit beiden Händen. »Warum könnte es gefährlich werden? Und warum lebt ihr in unterschiedlichen Welten, du und Lilli?« Angriff war oft die beste Verteidigung.
Jan wurde blass. Offensichtlich hatte sie wirklich viel mehr gehört, als sie hören sollte. »Nele, bitte. Ich kann dir alles erklären.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich weiß, dass dir deine blöde Arbeit immer wichtiger war als Lilli oder ich.«
Jan zuckte zusammen. Nele wusste, dass sie ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen hatte, und genau das wollte sie. Sie wollte ihm wehtun.
Jan seufzte und stand auf. »Komm, ich bringe dich wieder nach oben.« Er wollte ihren Arm greifen, aber Nele entzog sich ihm und drängte sich mit dem Tablett an ihm vorbei in die Küche.
»Du hast alles kaputt gemacht. Wir hätten es schön haben können. Lilli, du und ich. Aber du musstest ja dauernd weg sein. Warum hast du nichts von Wien erzählt? Weiß Lilli, dass du schon einmal hier warst? Oder soll sie das vielleicht gar nicht wissen?«
»Nele, bitte, du verstehst das nicht.«
»Fass mich nicht an!« Nele knallte das Tablett auf den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt.
»Nele, verdammt!« Jan wollte sie aufhalten, aber Viviane hielt ihn zurück.
»Lass sie. Sie braucht jetzt ein bisschen Raum für sich. Gib ihr den. Und gib ihr Zeit. Sie ist einfach durcheinander.«
Mit einem Seufzer ließ Jan sich wieder auf seinen Platz sinken. »Ich wünschte, ich hätte sie niemals so verletzen müssen.«
Nele saß auf ihrem Bett. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Am liebsten hätte sie ihren Rucksack gepackt und wäre wieder nach Hause gefahren. Aber das Zuhause, nach dem sie sich sehnte, gab es nicht mehr. Nele fühlte sich so allein wie noch nie in ihrem ganzen Leben.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Unter ihr lag der Garten. Trotz der Dunkelheit schimmerte er silbern im Licht des Mondes, der fast rund am Himmel stand. Vollmondnächte sind Zaubernächte, sagte Jan immer. Wenn du einmal zaubern möchtest, dann versuche es am besten in einer Vollmondnacht. Da sind die Türen zwischen denWelten weit offen und es gelingt dir vielleicht. Nele hatte darüber gelacht. Sie hatte nie versucht zu zaubern. Und jetzt war sie zu alt, um noch an solche Märchen zu glauben.
Sie griff in die Hosentasche und umschloss mit den Fingern ihren Glücksstein. Glatt und warm lag er in ihrer Hand. Was sollte sie jetzt tun?
Da entdeckte sie einen Schatten, der durch den Garten huschte. Eine kleine Flamme leuchtete auf, dann brannte auf dem großen Tisch unter der Laube ein Windlicht. Nele wischte sich die Tränen ab, um besser sehen zu können. Aber der Schatten war verschwunden.
Der Garten lag wieder still da.
5
Als Nele wach wurde, galt ihr erster Gedanke dem Mädchen. Letzte Nacht, kurz nachdem der Schatten aus dem Garten verschwunden war, hatte sie es gesehen. Ein Mädchen mit einem dicken Zopf auf dem Rücken, einem Kleid fast bis auf den Boden. Ein Mädchen ungefähr so alt wie sie selbst, das plötzlich aus der Dunkelheit getreten war wie aus dem Nichts. Das zum Tisch unter der Pergola gegangen war, dort ein Bündel an sich genommen hatte und dann wie von Zauberhand wieder verschwunden war.
Jetzt im hellen Sonnenlicht erschien Nele die Erinnerung ganz unwirklich und weit weg.
Sie nahm sich vor, Viviane bei nächster Gelegenheit danach zu fragen, und sprang aus dem Bett.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass der große Tisch schon zum Frühstück gedeckt war. Flavio saß bereits da und unterhielt sich angeregt mit Jan. Nele dachtean ihre erste Begegnung mit Flavio am gestrigen Abend, und verwirrt stellte sie fest, dass sie froh war, ihn zu sehen. Schneller als gewöhnlich brachte sie ihre Morgentoilette hinter sich und schlüpfte in Jeans und T-Shirt.
»Guten Morgen, Kleine.« Auch wenn sie inzwischen schon fast so groß war wie Lilli, war Nele Jans Kleine geblieben. Zum ersten Mal wünschte sie sich, er würde aufhören, sie so zu nennen. Vor allem wünschte sie sich, er würde endlich aufhören, sie wie ein kleines Kind zu behandeln. Sie rutschte neben ihn auf die alte Gartenbank und ließ sich nur widerwillig umarmen. Die Wut vom letzten Abend war noch nicht ganz
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