Holundermond
verraucht.
»
Buongiorno
, Nele.« Flavio grinste sie an. »Gut geschlafen im Reich der Frau Holle?«
»Das habe ich gehört, Flavio!« Lachend stellte Viviane eine Kanne mit frischem Tee auf den Tisch. »Aber so ganz unrecht hat er ja nicht, unser italienischer Freund.« Sie deutete auf die Zweige, unter denen es sich Jan und Flavio gemütlich gemacht hatten. »Das ist ein Holunder. Man nennt ihn auch den Baum der Frau Holle.«
Nele erinnerte sich an das heiße Getränk am Abend und betrachtete die vielen Dolden, an denen unzählige kleine weiße Blüten saßen.
Viviane folgte ihrem Blick. »Jetzt blüht der Holunder noch weiß wie Schnee. Bald rieseln seine Blüten zur Erde und glitzern dabei in der Sonne wie Goldstaub. Aber wenn die Beeren später reif sind, dann sind sie schwarz, schwarzwie Pech. Du kannst es dir also aussuchen, ob du lieber mit Gold oder mit Pech überschüttet werden möchtest.« Sanft rüttelte Viviane an einem tiefer hängenden Ast und Hunderte von winzigen Blüten rieselten auf Nele herab.
Und mit einem Mal hatte Nele das Gefühl, dass es doch noch schön werden könnte in diesem Sommer. Die Blätter des Holunders über ihr rauschten leise im Wind, sie hörte das Summen der Insekten in der Laube, es duftete nach frisch gemähtem Gras und nach Honig. Auf dem Tisch leuchteten rote Erdbeeren, dazu gab es knusprige Waffeln.
»Wusstet ihr schon, dass im Holunder auch Geister wohnen?« Jan stellte seine Tasse ab.
»Geister? Ich kenne nur ein altes Gespenst und das wohnt im Haus.«
»Na warte, Bürschchen. Das alte Gespenst wird sich überlegen, ob du hier heute ein Mittagessen bekommst.«
Nele kicherte, als Viviane Flavio am Ohr zog.
»Was denn für Geister?« Niemand konnte so schön Geschichten erzählen wie Jan. Erwartungsvoll schaute Nele ihn an.
»Der Holunder hat zwei Gesichter, zwei Seiten. Bei den alten Germanen wurde er verehrt, weil sie glaubten, dass die Göttin Holda in ihm lebt. Die weißen Blüten sollten die Helligkeit der Göttin symbolisieren. Die Germanen waren der Überzeugung, dass ein Mensch, der wie Holda den Weg des Lichts geht, von den Göttern mit Erkenntnis und Weisheit überschüttet wird, so wie im Märchen dieGoldmarie mit Gold. Holda wird als milde, freundliche Göttin beschrieben, die das Leben der Pflanzen und Tiere beschützt.«
»Und die andere Seite?«
»Die dunkle Bedeutung, die man dem Holunder zuspricht, entstand erst mit der Verbreitung des Christentums. Den Christen gefiel es nicht, dass die Menschen zu einer heidnischen Göttin beteten, und sie behaupteten daher, im Holunder wohnten nur böse Geister und Dämonen und die überall verehrte Göttin Holda sei ein gefährlicher Lichtgeist.«
»Und das haben die Menschen geglaubt?«
»Na ja, die Geschichte wurde ihnen lange genug erzählt.« Jan zuckte mit den Schultern. »Das Holz des Holunders galt schon bald als Teufelsholz, das man auf gar keinen Fall im Kamin verbrennen durfte, weil man sich sonst den Satan ins Haus lockte. Und mit dem wollte nun wirklich niemand etwas zu tun haben. Außerdem glaubten die Menschen, dass auch die Zauberstäbe der Hexen aus Holunderholz gemacht wurden.« Jan blickte von Viviane zu Flavio, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Wenn dir dein Leben lieb ist, Flavio, dann sag jetzt besser nichts.« Viviane hob mahnend den Zeigefinger.
Nele schaute Flavio an. Dann prustete sie los. Es tat so gut, mal wieder zu lachen.
Sie liebte solche Geschichten. Alles fügte sich ineinander, alles ergab einen Sinn, wenn man nur mit offenen Augen durch die Welt ging.
Jetzt war vielleicht der richtige Moment, um nach dem geheimnisvollen Mädchen zu fragen, das sie in der Nacht gesehen hatte. Aber was, wenn es doch nur ein Traum gewesen war? Würde Flavio sie nicht auslachen? Sie schielte zu ihm hinüber. Er gluckste immer noch leise vor sich hin. Alles war so schön, doch mit einem Mal musste Nele an das denken, was Jan gestern Abend zu Viviane in der Küche gesagt hatte: dass der Unfall vielleicht gar kein Unfall gewesen war, sondern ein Anschlag, weil jemand ihn nicht in Wien haben wollte. Und sie fragte sich, wer dieser jemand sein könnte.
Was hatte Jan entdeckt, das so gefährlich war? Sofort war ihre Sommerstimmung wie weggeblasen. Sie starrte Viviane an. Was wusste sie über Jans Entdeckung? Welche Geheimnisse teilte sie mit ihrem Vater?
Viviane wirkte so fröhlich, so unbekümmert. Sie goss Jan Kaffee nach und schob Nele eine dick mit Puderzucker bestäubte
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