Holundermond
wollte, sie blieben nie an ihrem Platz.
Jan hob die Hand und strich sich über den Kopf. Er schien müde zu werden. Nele spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Was, wenn Jan jetzt anhielt, um eine Pause zu machen? Sie wollte lieber gar nicht daran denken und schloss die Augen. Sie versuchte sich den Dieb vorzustellen, der nachts in Kirchen einbrach, aber immer wieder schob sich ein anderes Bild vor ihr inneres Auge. Das Bild von Jan, wie er unten auf der Straße neben seinem gepackten Bus stand und winkte.
Irgendwann schlief Nele ein.
Es begann bereits zu dämmern, als sie wieder aufwachte. Jan hatte die Autobahn verlassen. An dem Schaukeln des Busses spürte sie, dass die Straße kurvenreich war. Nele streckte sich ein wenig, als ein schrilles Geräusch sie zusammenzucken ließ.
Jans Handy klingelte. Sie hielt die Luft an.
»Jan Wagner, hallo?«
»Jan, bist du dran, kannst du mich hören?«, ertönte laut die Stimme ihrer Mutter aus der Freisprechanlage.
Lilli! Nele erschrak.
»Lilli?«
Das Handy knarrte und rauschte, der Empfang war nicht besonders gut.
»Ja, Lilli hier, Jan. Die Verbindung ist so schlecht, kannst du mich hören?«
»Ich kann dich hören. Was gibt es denn?«
»Nele ist weg!«
Nele biss sich auf die Lippen.
»Was soll das heißen, Nele ist weg?«
»Sie ist weg, verschwunden! Seit du weggefahren bist, habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Hast du in ihrem Zimmer nachgesehen?«
»Natürlich habe ich in ihr Zimmer geguckt.« Lillis Stimme wurde lauter. »Sie ist nicht da!«
»Sie wird bei einer Freundin sein. Nele verschwindet doch nicht einfach so.«
Als Nele die besorgte Stimme ihrer Mutter hörte, bekam sie ein furchtbar schlechtes Gewissen.
»Jan! Nele ist nicht bei irgendeiner Freundin. Der Rucksack auf ihrem Schrank ist weg, Kleidungsstücke fehlen auch. Ihr Handy und ihre Spardose sind nicht mehr da. Sie ist abgehauen, Jan, verstehst du!« Lillis Stimme überschlug sich fast.
»Abgehauen? Aber wohin denn? Und warum?« Jan schrie mittlerweile ins Telefon.
Nele machte sich ganz klein.
»Lilli, wenn sie ihr Handy mitgenommen hat, hast du denn schon mal probiert, sie anzurufen?«
»Nein«, antwortete Lilli nach einer kurzen Pause. »Daran habe ich vor lauter Aufregung gar nicht gedacht. Ich probiere das gleich mal und melde mich dann wieder. Hoffentlich hat sie es an.«
»Ja, hoffentlich«, murmelte Jan.
Nele wurde blass. Ihr Handy! Das hatte sie total vergessen! Hektisch angelte sie nach ihrem Rucksack. Sie nestelte an dem Verschluss herum. Mist! Wo war dasHandy nur? Sie wühlte durch ihre Sachen, grub sich an den Kleidungsstücken vorbei und tastete über den Boden des Rucksacks. Da! Etwas Glattes. Sie griff zu und merkte enttäuscht, dass es nur ihre Spardose war.
In dem Moment unterbrach ein Klingelton das gleichmäßige Brummen des Motors.
Jan fuhr herum. »Was zum Teufel …«
Nele ließ ihr Handy klingeln und krabbelte aus dem Versteck.
»Verdammt, Nele, was hast du dir dabei gedacht?« Jan schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad.
Nele öffnete den Mund, sie wollte etwas sagen, heraus kam aber nur ein Schluchzen. Es war, als ob sie vor Schreck all die Worte, die sie sich als Erklärung zurechtgelegt hatte, verschluckt hätte.
»Kannst du dir vorstellen, was deine Mutter durchgemacht hat? Sie ist fast verrückt vor Angst um dich!«
Das Handy klingelte wieder.
»Und jetzt stell endlich dieses verdammte Telefon ab!«
Nele zuckte zusammen und kletterte nach vorn. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen und schaute Jan ängstlich an.
Er würdigte sie keines Blickes und starrte weiter geradeaus auf die Straße, die sich eng und steil einen Berg hinaufwand. Er umklammerte fest das Lenkrad, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Am nächsten Bahnhof halten wir an und ich setze dich in den Zug nach Hause.« Seine Stimme klang kalt undabweisend. Und enttäuscht. Das war das Schlimmste. Zu hören, dass Jan enttäuscht von ihr war.
»Nein, bitte, lass mich bei dir bleiben. Ich rufe Lilli an und erkläre ihr alles. Ich bin dir nicht im Weg. Versprochen. Du brauchst dich überhaupt nicht um mich zu kümmern.«
In diesem Moment ertönte ein lautes Hupen hinter ihnen. Jan warf einen Blick in den Rückspiegel und fluchte. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu. »Nein! Nele, du kannst nicht mitkommen. Du weißt doch …«
»Jan!« Entsetzt starrte Nele aus dem Seitenfenster. Ein riesiger Transporter hatte zum Überholen angesetzt und schob sich
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