Holundermond
eine Amsel. Sie kannte die Stimmen der heimischen Vögel, Jan hatte sie ihr bei ihren langen gemeinsamen Spaziergängen durch den Wald immer wieder erklärt.
Nele seufzte. Der Garten schien ihr so unwirklich, die Stille so friedlich und vollkommen.
Im hinteren Teil des Gartens stand noch die kleine Hütte, die Jan ihr gebaut hatte und die ihr Schloss, ihr Wigwam oder ihre Höhle gewesen war. Auf dem Dach saß die Amsel und schaute sie neugierig an.
Nele schlüpfte unter das Dach, kauerte sich an die Wand und schlang die Arme um die Knie. Wenn man die Zeit nur zurückdrehen könnte. Oft hatte sie sich gewünscht, endlich erwachsen zu sein. Doch heute fühlte sie sich so klein wie schon lange nicht mehr und alles an ihr kam ihr zu groß vor. Ihre Beine waren schrecklich lang, sie konnte in der Hütte nicht mehr stehen, ohne sich den Kopf anzustoßen. Ihre Arme waren so gewachsen, dass sie sie nur auszustrecken brauchte, um die Wände rechts und links gleichzeitig zu berühren. Nele schloss die Augen und stellte sich vor, nicht sie sei größer geworden, sondern die Hütte sei geschrumpft. So musste Alice sich im Kaninchenbaugefühlt haben, bevor sie den Zaubersaft getrunken hatte.
»Hier steckst du also! Ich habe dich schon überall gesucht.«
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Nele wach wurde. Die Amsel war längst verstummt. Nele rieb sich die Augen und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Unter der Wolldecke war es heiß geworden, die Haare klebten ihr nass am Kopf und ihr Sweatshirt war ganz verschwitzt.
Vor der Hütte stand Jan. »Willst du nicht rauskommen, oder möchtest du weiterschmoren, bis du gar bist?«
Nele hatte nicht damit gerechnet, ihren Vater so schnell wiederzusehen. Im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie sich über sein Erscheinen freuen oder ärgern sollte.
Sie krabbelte aus der Hütte und reckte sich. »Was willst du hier?« Unschlüssig sah sie ihren Vater an, wie er da vor ihr stand, die Hände in den Taschen vergraben.
Das Telefongespräch fiel ihr wieder ein. Komm her und sag es ihr selbst, hatte ihre Mutter geschrien.
Er brauchte nichts zu sagen. Sein schuldbewusster Blick war deutlich genug. Nele betrachtete die Biene, die zu ihren Füßen tief in den blühenden Klee krabbelte.
»Komm mal her!« Jan setzte sich auf die Bank, die neben ihrer Kinderhütte unter der alten Fichte stand, und zog sie an seine Seite, so wie er es früher oft getan hatte. »Wie alt bist du jetzt?«, fragte er leise.
Natürlich wusste er genau, wie alt sie war. Was sollte das? »Zwölf«, brummte Nele.
»Zwölf? Meine kleine Prinzessin ist schon zwölf Jahre alt?«
»Warum bist du hier?«
Jan seufzte.
»Du bist genauso hartnäckig wie deine Mutter«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
»Du hast dich heute Morgen verabschiedet.«
»Nele, ich muss weg. Ich weiß es seit gestern Abend, aber ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Deine Mutter hat recht, ich bin ein Feigling.«
Ein Tannenzapfen landete vor ihren Füßen. Jan kickte ihn weg.
»Ich habe einen Anruf aus Österreich bekommen. Aus Wien. Es geht um ein paar wertvolle Gegenstände, die aus Kirchen gestohlen wurden.« Seine Stimme klang fast flehend.
Nele starrte auf den Tannenzapfen im Gras. Daher also wehte der Wind. Ihr Vater arbeitete in einem Museum. Er war Historiker und Kirchengeschichte sein Spezialgebiet.
»Wann musst du fahren?« Sie flüsterte.
»Heute noch. Sie erwarten mich morgen früh in Wien.«
Heute noch. Vor wenigen Stunden erst war er ausgezogen.
»Bitte, Jan! Du musst mich mitnehmen!«
Er schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich habe dort keine Zeit für dich. Ich bin den ganzen Tag unterwegs, kann mich nicht um dich kümmern. Versteh das doch. Wir holen deinen Besuch nach. Versprochen. Spätestens in den Herbstferien. Mir fällt das auch nicht leicht, aber du weißt, wie schwer es in meinem Beruf ist, sich einen Namen zu machen. Ich muss diesen Auftrag annehmen. Ich würde meinen Sommer auch viel lieber mit dir verbringen, bitte glaub mir das.«
»Es wäre mir egal, den ganzen Tag allein zu sein. Ich könnte lesen. Oder meine Schulbücher mitnehmen und lernen.«
»Aber …«
»Hier bin ich auch allein. Alle meine Freunde verreisen. Es ist niemand da.«
»Deine Mutter ist zu Hause.«
»Ich will aber nicht hierbleiben zwischen all den doofen Umzugskisten. Bitte nimm mich mit! Ich bin kein kleines Kind mehr, auf das du den ganzen Tag aufpassen
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