Holundermond
musst.«
»Nein, das bist du wirklich nicht mehr. Aber es geht nicht, Nele. Sei doch vernünftig!«
Tränen schossen ihr in die Augen. Vernünftig! Dieses Wort hatte sie in letzter Zeit viel zu oft gehört.
»Ich will aber nicht vernünftig sein!« Sie schob seinen Arm von ihrer Schulter und rannte zum Haus. Auf der Terrasse stand Lilli und sah ihr besorgt entgegen.
»Nele!«
»Lass mich in Ruhe!« Sie stürmte an Lilli vorbei und stolperte die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Schluchzend schloss sie die Tür hinter sich. Sie hatte es so satt, dauernd wie ein kleines Kind behandelt zu werden! Nie fragte sie jemand nach ihrer Meinung! Nele packte ihr Kissen und schleuderte es quer durchs Zimmer. Sie würde nicht mehr vernünftig sein! Nie mehr! Sie würde mit Jan nach Wien fahren. Ob er das wollte oder nicht.
Nele zerrte ihren Rucksack vom Schrank und fing an, wahllos Sachen hineinzustopfen. Jeans, ihren Kapuzenpulli, Wäsche, zwei T-Shirts, Strümpfe, einen Notizblock, ihr Handy. Fast hätte sie ihren Glücksstein vergessen, den Jan ihr geschenkt hatte, als sie noch ganz klein war. Glatt und rund lag er in ihrer Hand und schimmerte goldbraun. »Tigerauge«, hatte Jan ihn genannt.
Nele steckte den kleinen Stein in die Tasche ihrer Jeans.
Geld, sie brauchte Geld! Achtlos warf sie die Blechdose mit ihrem Gesparten zu den anderen Dingen. Ihr Lieblingsbuch und ihren Plüschhasen durfte sie auch nicht vergessen. Aber der Rucksack war voll. Behutsam setzte sie den Plüschhasen zurück auf ihr Bett und deckte ihn zu. Sie war kein kleines Kind mehr. Er musste hierbleiben. Nele sah sich noch einmal im Zimmer um. Dann nahm sie den Rucksack, drückte leise die Türklinke herunter und lauschte. Nichts war zu hören. Ihre Eltern mussten noch im Garten sein.
Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und schlüpfte aus dem Haus. Jans Bus glänzteblau in der Sonne. Erleichtert registrierte sie, dass er ihn nicht abgeschlossen hatte. Sie öffnete die Schiebetür, kletterte hinein und zog die Tür leise wieder zu. Schnell krabbelte sie nach hinten und kroch unter die letzte Bank. Hier konnte ihr Vater sie nicht so ohne Weiteres sehen. Sie griff nach ihrem Rucksack und stellte sich auf eine lange Autofahrt ein.
2
»Wenn du sie gefunden hast, dann sag ihr, dass ich sie lieb habe.« Jan schlug die Autotür zu und startete den Motor.
Nele atmete aus. Er hatte sie nicht entdeckt, aber offensichtlich hatte er nach ihr gesucht. Geschah ihm recht, dass er losfahren musste, ohne sich verabschieden zu können. Sollte er ruhig mal spüren, wie es war, wenn einem der Schmerz unter die Haut zog.
Nele schloss die Augen und kroch noch ein bisschen tiefer in ihr Versteck. Es kam ihr so vor, als ließe sie nicht nur Lilli und das Haus hinter sich, sondern ihr ganzes bisheriges Leben. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr zwei Tränen übers Gesicht liefen.
Der Bus beschleunigte, sie waren wohl schon auf der Autobahn.
Am liebsten hätte Nele jetzt gelesen, sie hatte ja sogar ihr Lieblingsbuch eingesteckt, aber seit einiger Zeit konntesie sich einfach nicht mehr richtig konzentrieren. Zu voll war ihr Kopf von all den Problemen und den nächtlichen Streitereien ihrer Eltern, zu voll mit ihren vielen Fragen und Ängsten. Da war kein Platz mehr für Geschichten.
Nele legte den Kopf auf ihren Rucksack.
Wie lange sie wohl schon unterwegs waren? Langsam wurde es ungemütlich. Jan würde nicht begeistert sein, wenn er sie fand. Vermutlich würde er sogar richtig böse werden. Schließlich hatte er sie nicht mitnehmen wollen. Nele hasste es, mit Jan zu streiten. Wenn er wütend auf sie war, ging es ihr schlecht. Sie konnte es nicht ertragen, ihn zu enttäuschen. Und Lilli? Nele wurde es ein wenig flau im Magen, wenn sie an die Sorgen dachte, die ihre Mutter sich ohne Zweifel gerade machte. Sie hätte ihr wenigstens eine Nachricht hinterlassen sollen. Aber es war alles so schnell gegangen. Außerdem hatte sie befürchtet, dass Lilli Jan zu früh anrufen und zur Umkehr bewegen könnte.
Denn umkehren wollte sie auf keinen Fall. Mit einem wütenden Jan konnte sie leben, aber zurückbringen durfte er sie nicht.
Vorsichtig lugte sie aus ihrem Versteck hervor. Sie konnte Jans Hinterkopf sehen, seine kurzen Haare, die immer in alle Richtungen abstanden und ihn stets aussehen ließen, als habe er eben erst das Bett verlassen. Nele hatte die störrischen Haare ihres Vaters geerbt. Sie konnte sie kämmen und bürsten, wie sie
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