Honky Tonk Pirates - Das vergessene Volk - Band 2
Herren, was würdet Ihr
mitnehmen, wenn Ihr ganz freiwillig und ohne Zwang auf eine einsame Insel gehen würdet?« Honky Tonk Hannah schaute sich um, als stünde sie in einem Kreis neugieriger Zuhörer. Dann hob sie die Hände. »Ja, ja, ich weiß. So etwas macht nur ein Dummkopf, ein Depp. Ein Kerl, der Otto heißt, Karl Otto und Stupps. Aber nehmen wir mal an, auch Ihr würdet das tun? Was würdet Ihr mitnehmen. Auf diese einsame Insel?«
Hannah drehte sich erwartungsvoll im Kreis und nahm jeden ihrer unsichtbaren Zuhörer dabei ins Visier. »Denkt bitte nach! Ich weiß, es ist schwer. Wie wär’s mit ein Paar Schuhen oder’nem Hut? Einem gigantischen Hut, der allen den Atem raubt: den Moskitos, den Pelikanen und, nicht zu vergessen, den Fischen. Den Fischen, ja-mahn, denen raubt es den Atem. Das macht einen verrückt, plemplem und meschugge, und vielleicht wählt man dann doch lieber eine Pistole. Eine Pistole und eine Kugel und die jagt man sich dann durch den eigenen Kopf. Halleluja und Amen, weil man so heilig ist.«
Sie spuckte aus. »So biestig heilig wie diese Kleine, die biestige Heilige, ach, was weiß ich, was die ist. Ich weiß eben nur, was ich mitnehmen würde. Höllendepp Will, kannst du das vielleicht raten? Nun, ich, ich, Honky Tonk Hannah, die beste Piratin der Welt, ich nähme ein Boot mit. Und weißt du, warum? Ja-mahn, verfuchst, du hast es geschnallt: Ich nähme ein Boot mit, um abzuhauen.Weg von der Insel und weg von den Biestern. Besonders dem einen, Halleluja, verfuchst!«
Sie holte tief Luft und blickte wutschnaubend zur Insel. »Halleluja! Verfuchst!«, verwünschte sie Will, doch das war nicht der Grund für die Angst, die Will in seinem Traum befiel.
Der Junge schlief unruhig neben Aweiku. »Sie kommen. Sechs Schiffe!«, flüsterte er immer wieder und dann erschrak er,
als könnte er sehen, wie sie in diesem Augenblick, nur noch knapp vom Horizont verborgen, mit ihren mächtigen Rümpfen das Meer durchpflügten.
Talleyrands Schoner segelte an der Spitze der Flotte.
»Seht ihr die Wolke!«, rief der Mann im Ausguck. »Unter so einer Wolke ist eine Insel. Holt den Baron! Gleich sind wir da.«
Doch der Schwarze Baron stand längst auf der Brücke. Er hatte den langen schwarzen Mantel um die Schultern geschlagen und die Spitze des Zweispitzes warf einen Schatten auf sein Gesicht, in dem die fahlgelben Augen wie zwei dämonische Monde leuchteten. Dämonisch wie die Macht der 370 Kanonen und Mörser, die mit den 2000 Mann die tödliche Fracht seiner Schiffe bildete.
»2000 Mann!« Will war jetzt hellwach. Er atmete heftig. Eiskalte Schweißtropfen perlten auf seiner fieberheißen Stirn. Er hatte Angst. Verflucht große Angst, und solch eine Angst hatte er nicht einmal verspürt, als er vor vielen Wochen in Berlin in Eulenfels’ Schloss unter dem Galgen gestanden hatte.
Doch es gab einen Ausweg. Will musste weg. Er musste so schnell wie möglich auf den Fliegenden Rochen und deshalb schob er Aweiku, deren Kopf immer noch auf seiner Schulter lag, ganz sanft in den Sand. Dann stand er auf, vorsichtig und lautlos, wie sie es ihm beigebracht hatte. Er sah ihr Lächeln, als ob sie ihm sagen wollte, was für ein guter Schüler er war, und dann ließ er sie liegen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte er über den Strand, überquerte die Landzunge am Ende der Bucht, sprang, als er den Rochen entdeckte, ins Wasser und schwamm zu ihm hinüber.
VERKAUFTE SEELEN
H annah genoss nach der Schufterei der letzten zwei Tage die Dusche an Deck. Sie hatte das Wasser persönlich aus einer Quelle der Insel geholt. Sie hatte Beutel, Flaschen und Schläuche in das große Fass gefüllt, das sie zuvor in drei Meter Höhe an den Fockmast gebunden hatte, und aus dem rieselte jetzt ein kühler, wohltuender Regen auf ihre vom Goldsäckeschleppen geschundene Haut. Es löste den Schweiß, den Dreck und selbst die Knoten aus ihrem Haar, und wenn sie es trank, spürte sie, wie die Müdigkeit von ihr abfiel. Hannah spürte den Wind. Er war angenehm warm. Deshalb trat sie aus dem sanften Regen der Dusche ins Mondlicht, streckte den nackten Körper und ließ ihn, die Augen geschlossen, von eben diesem Wind trocken.
»Ja«, seufzte sie. Das war einer dieser Momente, die sie so liebte. Sie fühlte sich frei. Unendlich frei, so, als wäre sie der Horizont, der den Himmel umspannt. Jetzt brauchte sie niemanden mehr, denn jetzt war sie glücklich.
Da hörte sie die Schritte nackter Füße an Deck.
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