Horror Factory - Der Behüter(German Edition)
keines der Fotos die Augenpartie des Mannes zeigte.
Dann erst erkannte Alenka, dass sie sich getäuscht hatte. Die rätselhaften Zeichen und Muster, die die Haut des Mannes bedeckten, stammten überhaupt nicht von einer Tätowiermaschine. Sondern von einem Messer. Oder einem Skalpell. Die Zeichnungen waren in die Haut geschnitten. Was Alenka für schwarze Tätowiertinte gehalten hatte, war in Wahrheit Blut. Statt Tattoos überzogen den Körper Linien geronnenen Blutes, das zwischen den Rändern der Einschnitte zu Schorf getrocknet war.
Die gesamte Anleitung, wie man ›den Schutzengel zwingt, sich dem Gesalbten zu offenbaren‹, bestand aus diesen Fotografien. Alenka fühlte sich auf morbide Weise zugleich angeekelt und fasziniert von der Sache. Sie scrollte langsam wieder nach oben. Dann rieb sie sich müde die Augen. Schließlich griff sie nach der PC-Maus, um das Programm zu beenden und den Rechner auszuschalten.
Doch stattdessen tat sie etwas ganz anderes. Einem rätselhaften Impuls gehorchend, führte sie den Mauszeiger auf das Drucker-Symbol der Webseite. Das Drucker-Fenster sprang auf. Eine Sekunde lang starrte sie das helle Rechteck an wie einen Geist. Doch dann blinzelte sie schläfrig, zuckte mit den Schultern – und startete den Ausdruck. Der Drucker erwachte summend zum Leben. Mit lautem Rattern zog er den ersten Bogen ein.
Als Alenka fünf Minuten später unter die Bettdecke kroch, sickerte fahles Frühlicht durch die Gardinen. Der Bildschirm war schwarz, der Drucker verstummt, und im Ausgabefach ruhte ein dünner Stapel Blätter, auf denen die Tinte noch trocknete.
*
Etwas hatte Alenka geweckt. Sie lag mit aufgerissenen Augen im Bett und starrte auf den Schatten, der sich mitten im Zimmer materialisiert hatte.
Ihr Herz pochte hart und schnell gegen die Rippen.
»Alenka?« Die Stimme klang leise und dunkel.
Alenka schluckte mühsam. Ihr Hals war vor Angst wie zugeschnürt. Zitternd kroch ihre Hand zum Schalter der Nachttischlampe. Sie fand ihn. Es gab einen Knall, und ein verkohlter Geruch breitete sich aus.
Die Glühbirne war durchgebrannt, und das Zimmer blieb finster.
Der Schatten bewegte sich. Er hob den Arm und riss den Vorhang zurück. Gleich einem riesigen Eidotter schwebte die Sonne vor der Fensterscheibe und durchflutete das Zimmer mit Helligkeit.
»Wer länger schläft, lebt kürzer. Hast du davon schon einmal gehört, Alenka?« Der Besucher stand neben dem Schreibtisch. Wie nebenbei ließ er die Blätter im Ausgabefach des Druckers über den Daumen rauschen.
»Du wolltest mich sehen, Alenka.«
Er ließ die Ausdrucke los und wandte sich Alenka zu.
»Ich heiße Jeliel.«
Er war umspielt von grellen Sonnenstrahlen. Alenka erblickte einen großen, schlanken Mann im knöchellangen dunklen Mantel, der einen Rucksack auf dem Rücken trug. Die dunkelblonden Haare waren schulterlang und im Nacken zusammengebunden. Das Gesicht war blass und schmal und von blonden Bartstoppeln besät, die im Sonnenglanz schimmerten. Rote, feminin geschwungene Lippen. Kalte blaue Augen.
»Ich bin dein Schutzengel.«
Alenka starrte ihn nur an.
»Okay«, räumte der Mann ein. »Du siehst keine Flügel. Sie liegen zusammengefaltet unter dem Bündel auf meinem Rücken, das aussieht wie ein Trekking-Rucksack.«
»So viel zum Engel«, fuhr er fort. »Nun zum Beschützer …«
Er begann, mit schlanken Fingern seinen Mantel aufzuknöpfen. Als der letzte Knopf geöffnet war, schlug er den Mantel zurück.
Darunter trug er eine schwarze Hose, deren Aufschläge in den hohen Stiefeln steckten, und ein locker sitzendes schwarzes Hemd. Aber Alenka starrte nur auf seine Armierung. Unterhalb der Achseln ragten links und rechts Pistolenkolben aus den Schulterholstern hervor. Über der Brust kreuzten sich zwei Patronengurte. Der Waffengürtel, der sich um seine Hüften schmiegte, enthielt Messer und Dolche und eine abgesägte Schrotflinte. An den Innenseiten des Mantels befanden sich Schlaufen mit Wurfsternen.
Er schürzte die Lippen zu einem Lächeln, hinter dem die weißen Zähne aufblitzten. »Man raunt, du seist unzufrieden mit meiner Leistung, Alenka«, sagte er und begann damit, den Mantel wieder zuzuknöpfen. »Aber Personenschutz ist immer Teamarbeit, das solltest du wissen. Der Beschützte und der Beschützer müssen zusammenwirken wie Partner. Doch wie soll Teamarbeit funktionieren, wenn einer der Partner den anderen noch nicht einmal sieht?«
Er zog die Brauen zusammen und nickte nachdrücklich. »Es wäre
Weitere Kostenlose Bücher