Horror Factory - Die Herrin der Schmerzen
interessiert war, ging er buchstäblich über Leichen.
Was für ein Unsinn! Er schüttelte den Kopf. Seine Sehnsucht nach Evi machte ihn noch verrückt.
Marco kaufte einige Lebensmittel ein, ging nach Hause, zog die Jalousien herab und schaltete den Fernseher ein. Das Handy legte er griffbereit neben sich. Er durfte Evis Anruf unter keinen Umständen verpassen.
*
Er hatte die dunklen Ringe unter den Augen so gut es ging kaschiert. Gegen die Falten und die eingefallene Wangenhaut konnte er nichts tun. Er hatte zu lange kein Tageslicht gesehen und sich schlecht ernährt. Ihm war übel, sein Herz schlug wie verrückt.
Marco betrachtete den Blumenstrauß. Lilien, umkränzt von Grünzeug. Mochte sie Lilien? Wusste sie von deren Symbolik als Blume der Reinheit? Er zögerte. Vielleicht trug er zu dick auf? Womöglich reichte es, wenn er ihr bloß die sündhaft teure Flasche Burgunder überreichte.
Marco ging am Gehsteig auf und ab. Wusste nicht, was er tun sollte, wie er sich weiter verhalten sollte.
Evi hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen. Wie aus heiterem Himmel war ihr Anruf gekommen, um 10:36 am Abend des vergangenen Samstags. Ohne weitere Umschweife hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie ihn sehen wollte und er sich auf eine Überraschung vorbereiten sollte. Er könne gerne seine Zahnbürste mitbringen …
Sie wohnte im Palais Pergsteidl. Besser gesagt: Ihr gehörte das Palais Pergsteidl, hatte sie ihm lachend auf seine ungläubige Nachfrage hin versichert. Es wäre vor etwa 20 Jahren günstig zu haben gewesen, und sie wollte ihr Geld nicht auf irgendeinem Bankkonto verrotten lassen. Also habe sie es kurzerhand über einen Notar erwerben lassen und nutze es seitdem.
Das Pergsteidl stammte aus dem 18. Jahrhundert, genauer gesagt aus dem Jahr 1714. Einstmals vor der Stadt gelegen und als Sommerfrische des einflussreichen Adelsgeschlechts derer von Pergsteidl gedacht, war es immer mehr von gutbürgerlichen Häusern eingekreist worden und allmählich mit ihnen verwachsen. Der letzte Vertreter seines Geschlechts, ein gewisser Johann, hatte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so wie fast alle seine Besitztümer, versoffen und verhurt. Das Gebäude, einstöckig, mit schnörkelloser Fassade und im sogenannten »Schönbrunnergelb« gestrichen, hatte seitdem ein gutes Dutzend Mal den Besitzer gewechselt. Es galt als Rohdiamant unter all den prächtigen Gebäuden Wiens. Einen, den man reinigen und unbedingt wieder zu Glanz verhelfen musste, glaubte man den Schriften, die im Internet über das Palais zu finden gewesen waren.
Und nun gehörte es Evelyn Zapfreiter, geborene Hamperg.
Marco überprüfte, ob sein Hemd richtig saß und ob er keinen Mundgeruch hatte. Er blickte auf die Uhr. Er war bereits einige Minuten zu spät dran. Er nahm all seinen Mut zusammen, ging die kleine Gasse entlang, wartete, bis die Straßenbahn quietschend um die Kurve kam, und überquerte dann die Straße. Das Palais lag an einer Ecke. Angesichts seiner Bedeutung wirkte es unscheinbar, fast enttäuschend. Da und dort war die typisch schnörkelige Architektur des Barocks zu erkennen, insbesondere entlang der Fenstergiebel rings um das Haupttor. Doch das war ihm alles völlig egal. Ihn interessierte bloß, dass Evi dort drinnen wohnte, dass sie auf ihn wartete und dass dies hoffentlich die Nacht der Nächte werden würde.
Er war versucht gewesen, Blink anzurufen und ihm zu erzählen, dass er Evi heute besuchen würde. Doch er hatte es bleiben lassen. Er wollte sich keine weiteren guten Ratschläge oder Warnungen von seinem Freund anhören. Marco wusste ganz genau, was er tat.
Die Torflügel waren geschlossen. Er sah sich um und entdeckte rechts vom Tor eine Gegensprechanlage, die mit den Buchstaben »EZ« beschriftet war. Evelyn Zapfreiter. Marco läutete. Ein surrendes Geräusch ertönte, er zuckte zusammen. Er blickte nach oben und entdeckte eine Kamera, die jeder seiner Bewegungen folgte.
»Marco?«, tönte Evis Stimme blechern aus dem Sprechfeld. »Schön, dass du’s geschafft hast! Eine Sekunde, ich bin gleich bei dir.«
Er trat zurück und überblickte die Straße. Ein einsamer Fußgänger, eine alte Frau mit Stock, schlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Gehsteig entlang. Es war kaum Verkehr, Wien wirkte völlig verlassen. Morgen war Freitag, ein Feiertag. Wer auch immer konnte, floh aus der Stadt.
Marco hörte Schritte. Sie stammten von Damenschuhen, die rasch über Stein stöckelten. Gleich darauf fuhr ein schwerer
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