Horror Factory - Die Herrin der Schmerzen
er bei Fernsehköchen immer bewundert hatte, warf Kräuter, Gemüse und Gewürze scheinbar planlos in einen blubbernden Suppentopf. Die Messer und andere Kücheninstrumente glänzten im Licht der niedrig stehenden Sonne. Sie nutzte die Geräte, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
»Du bist so schweigsam?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ich sehe dir zu und bewundere dich. Ich wusste bis vor Kurzem nichts von deinen Kochkünsten.«
»Du wusstest gar nichts über mich.« Evi blickte zu ihm hoch, plötzlich ernst geworden – und zuckte zusammen. Sie war mit dem Messer über die Kuppe des Zeigefingers gerutscht, hatte sich geschnitten.
Sie hielt die Hand vors Gesicht und betrachtete die Wunde. Ein dicker Blutstropfen quoll aus dem Schnitt, rann am Finger hinab, gefolgt von einem weiteren. Evi gab durch nichts zu verstehen, dass sie Schmerz empfand.
Marco sprang auf, wollte zu ihr eilen.
»Das ist schon in Ordnung«, wehrte sie ihn nun ab, durch seine Bewegung aus ihrem tranceähnlichen Zustand gerissen, hielt die Hand unter fließendes Wasser, nestelte dann Verbandszeug aus einer Schublade und verklebte die Wunde sorgfältig.
»Du machst mich offenbar nervöser, als ich angenommen hätte«, sagte sie. »So etwas passiert mir höchst selten.«
»Tut es weh?«
»Nein. Es geht schon wieder.« Ihre Stimme klang kalt. »Vielleicht ist es besser, wenn du nebenan wartest, bis ich fertig bin mit dem Kochen.«
»Aber …«
»Ich bitte dich darum.« Sie deutete in Richtung einer Tür im hinteren Küchenbereich.
Marco fügte sich. Er bückte sich und trat durch den Durchgang. Er fand sich in einem geschmackvoll eingerichteten Zimmer wieder. Es roch nach Leder. Im Zentrum stand ein Esstisch, Biedermeier, mit prachtvollen Intarsien. Ein Kristalllüster hing von der Decke. Dahinter umrahmten drei Ohrensessel mit speckigem Lederbezug einen offenen Kamin, an den Wänden standen Bücherregale.
Der Tisch war für zwei Leute gedeckt. Man sah ihm das Alter an, er war ein wenig wackelig. Doch er war wunderschön. Ein Stück, das Marco am liebsten gleich zerlegt und mit zu sich nach Hause genommen hätte.
Er stutzte. Die Einlegearbeiten sahen seltsam aus, und es dauerte eine Weile, bis er erkannte, was sie darstellten. Hölzer in verschiedenen Farben formten zwei Gesichter, nein!, Fratzen. Sie schrien, die Mienen drückten Leid und Verzweiflung aus. Evi hatte wahrlich einen eigenartigen Geschmack …
Aus der Küche drangen seltsame Geräusche. Es klang, als würde sie schimpfen und fluchen und dabei wie wild auf etwas einschlagen. Marco wollte eben zu ihr zurückkehren und sie fragen, was denn los sei, als sie mit klarer Stimme zu singen begann. Einen Hit aus den Achtzigern, aus ihrer gemeinsamen Schulzeit, an dessen Titel er sich nicht mehr erinnern konnte.
»Zehn Minuten noch!«, rief sie ihm zu.
»Kann ich die Bücher aus den Regalen nehmen?«, fragte er.
»Ja, aber sei vorsichtig!«
Das Geschirr klapperte nun wieder fröhlich. Der Geruch nach scharfen Gewürzen durchdrang den Raum. Marcos Magen grummelte gehörig. Er hatte sein leibliches Wohl während der letzten Tage völlig vernachlässigt und nur dann, wenn er sich daran erinnert hatte, eine Tiefkühlpizza aufgewärmt. Heute würde er das erste Mal seit gut zwei Wochen wieder anständig essen. Und danach …
Er betrachtete die Bücherreihen. Er entdeckte riesige Folianten mit Goldprägungen auf den Rücken, meist in Latein gehalten. Dazwischen fanden sich aktuelle Taschenbücher, billig gemacht und mit Klebebindung, und dann wieder einfache Schriften, meist vergilbt.
»Bücher übers Kochen«, sagte Marco zu sich selbst. »Über Metallurgie, über die Frühgeschichte der Menschheit, spiritueller und religiöser Krimskrams und dann wieder …« Er verstummte. Sachte und vorsichtig zog er ein unscheinbar wirkendes Buch mit abgegriffenem Umschlag aus einer Regalreihe auf Kopfhöhe. Es handelte sich um eine Bibel. Er öffnete sie, blätterte vor und zurück und achtete darauf, die einzelnen Seiten bloß mit den Fingerkuppen zu berühren.
»Das ist: Die gantze Heilige Schrifft« , entzifferte Marco mühsam. »Jetzt von newen nach dem letzten von D. Luthero vberlesenem Exemplare mit fleiß corrigirt. 1598.«
»Eine Augsburger Bibel«, sagte Evi.
Er zuckte zusammen. Sie hatte sich leise an ihn herangeschlichen. War sie nicht eben noch in der Küche gewesen und hatte laut gesungen?
»Ich habe zwei von ihnen«, fuhr Evi fort. »Eine von 1598 und dann noch
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