Horror Factory - Die Herrin der Schmerzen
eine Augsburger Ausgabe von 1634. Leider ist es mir noch nicht gelungen, an eine der Wittenberger Bibeln von Hans Lufft heranzukommen.«
»Du bist gläubig?«
»Nein. Aber ich bin leidenschaftliche Sammlerin.« Sie nahm das Buch aus seiner Hand und betastete seinen Rücken mit ihren langen, gepflegten Fingern. »Das hier ist ein Kulturgut, und es erzählt uns Geschichten. Ich meine nicht die der Evangelien, sondern die ihrer Besitzer. Was glaubst du, durch wie viele Hände dieses Buch während der letzten knapp fünfhundert Jahre gegangen ist?«
»Keine Ahnung.«
»Es gibt mindestens zwölf Vorbesitzer.« Evis Augen glänzten. »Ihre Namen sind allesamt auf einem Beilegeblatt vermerkt. Sie sind kaum noch zu entziffern, und ich konnte bislang bloß zwei von ihnen als halbwegs bekannte Figuren der Menschheitsgeschichte identifizieren. Es handelte sich um einen Wormser Baumeister des siebzehnten Jahrhunderts und um eine übel beleumundete Sängerin, die angeblich um siebzehnhundertsechzig eine Affäre mit dem pfälzischen Kurfürsten hatte, dem letzten seiner Ahnenreihe.«
Sie stellte das Buch vorsichtig wieder an seinen Platz. »Es ist wie bei vielen alten Dingen, Marco: Du kannst ihre Entwicklung durch den Zeitenlauf hindurch verfolgen. Man könnte glauben, dass sie bloß … Sachen sind. Doch sie verändern sich, werden abgegriffen, erhalten eine Patina oder verkommen, weil sie nicht ausreichend gut behandelt wurden. Andere gewinnen an Bedeutung, weil sie durch die Hände einer bedeutenden Persönlichkeit gewandert sind. Wiederum andere werden vergessen, um irgendwann wiederentdeckt zu werden und plötzlich in ihrem Wert zu steigen. Das ist nicht immer gerecht, finde ich. Aber Gerechtigkeit ist ohnedies ein Begriff ohne Wert.«
Sie blickte ihn an, die grünen Augen leuchteten. »Aber lassen wir das jetzt. Das Essen ist fertig. Du solltest mir unbedingt schmeicheln und mir sagen, dass es gut geworden ist. Andernfalls fällt die Nachspeise für dich aus.«
»Nachspeise?«, echote er.
»Du weißt schon, was ich meine.« Evi fuhr mit einem Finger die Linie seines Kinns entlang, über Hals und Brust hinab, um kurz vor seinem Hosenbund zu stoppen, sich umzudrehen und in die Küche zurückzustöckeln. »Setz dich hin. Ich empfehle dir übrigens einen Rotwein. Beziehungsweise habe ich bloß Rotwein im Haus.«
Marco ließ ein letztes Mal seine Blicke über die Bücherreihen schweifen. Er bedauerte es ein wenig, dass er sich nicht länger umschauen konnte. Er liebte den Geruch alten Papiers.
Aber vielleicht würde sich später die Gelegenheit für einen zweiten Blick auf Evis Sammlung ergeben. Nachdem sie gegessen und ihre … Nachspeise genossen hatten.
*
Kerzenlicht. Musik von Ella Fitzgerald. Das Knistern und Prasseln eines Feuers im Kamin. Ein ausgezeichnetes Essen, die Gegenwart einer wunderschönen Frau. Was konnte ein Mann mehr verlangen?
Nun – da war dieses verdammt schlechte Gefühl in Marcos Magengegend. Irgendetwas stimmte mit Evi nicht. Doch er schaffte es nicht, den Grund seines Unwohlseins zu bestimmen. Gewiss, er hatte ein schlechtes Gewissen angesichts all der bösen Dinge, die er und seine Freunde während der Schulzeit mit dem zöpfchentragenden und sommersprossigen Mädchen, das mittlerweile zu einer wahren Schönheit gereift war, angestellt hatten.
Doch da war noch mehr. Evis Stimmungsschwankungen machten ihm gehörig zu schaffen. Irgendein Geheimnis umgab diese Frau, und, er musste es sich eingestehen, je mehr Unsicherheit er spürte, desto mehr Lust empfand er. Vor Marco tat sich ein Abgrund auf – und er war drauf und dran, sich in die Tiefe zu stürzen.
»Möchtest du noch?«, fragte Evi und schenkte ihm Wein nach, ohne seine Antwort abzuwarten. Sie beugte sich zu ihm vor und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund.
Der Rebensaft war ein bisschen zu süß und ein bisschen zu schwer. Aber das störte Marco nicht. Nicht heute. Nicht angesichts dessen, was ihn in den nächsten Stunden erwartete. Der Wein und das damit verbundene Gefühl des Berauschtseins nahmen ihm seine Unsicherheit.
»Du hast es schön hier«, sagte er.
»Ich kann dich gerne herumführen.« Leise fügte sie ein »danach« hinzu.
»Gerne. Aber wie wär’s, wenn du mir jetzt gleich das Schlafzimmer zeigst?« Marco beugte sich nun ebenfalls vor und küsste sie. Energisch und drängend. Lüstern. Geil.
»Du bist ein ungeduldiger Mensch.« Evi zog sich ein Stück zurück, lockte ihn.
»War ich schon immer. Erinnerst du
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