Horror Factory - Die Herrin der Schmerzen
1
»Soll ich dir etwas bestellen?«
Marco sah irritiert hoch. Evelyn stand vor ihm und lächelte. Jene Frau, die er seit seiner Jugend verachtete.
»Nein danke.«
Mehr Höflichkeit brachte er nicht auf, nicht Evelyn gegenüber. Marco wandte sich wieder seinem Freund Blink zu. Sie sprachen über Fußball, wie meist. Über eine schlecht laufende Saison ihrer Lieblingsmannschaft und darüber, welche Spieler gekauft und welche abgegeben werden mussten.
»Ich würde dich wirklich gerne auf ein Getränk einladen.«
Evelyns Verhalten irritierte Marco. Was wollte sie von ihm? Sie hatten sich nie gut verstanden.
»Und warum?«
»Wir sollten uns endlich einmal aussprechen. Darf ich mich zu dir setzen?«
Blink grinste. »Ich möchte das junge Glück keinesfalls stören.« Er rückte beiseite, nicht ohne Marco einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Was Evelyn betraf, waren sie stets einer Meinung gewesen: Sie war die personifizierte Dummheit. Wie die Klassenkameradin die gemeinsame Schulzeit überstanden hatte, bot seit jeher Anlass zu Spekulationen, und erst recht, wie sie ihren Master in Betriebswirtschaft gemacht hatte. Hatte sie sich durch die Betten der Lehrer geschlafen, waren großzügige Spenden ihres Vaters an den Schul- und Universitätsfonds geflossen?
»Na schön.« Marco zuckte mit den Schultern. »Ich hätte gerne einen Apfelsaft.«
Sie lächelte und entblößte makellose Zähne, wie Perlen aneinandergereiht. »Ich komme gleich wieder.« Sie drehte sich um und ging davon, mit einem aufreizenden Gang, der nicht mehr an den eines unbedarft dahinstolpernden vierzehnjährigen Mädchens erinnerte.
»Pass bloß auf; die will womöglich was von dir«, raunte ihm Blink zu.
»Nach all dem, was damals passiert ist?« Marco schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich hat sie’s vergessen. Einzeller haben bekannterweise kein besonders gutes Erinnerungsvermögen.« Blink lachte und wandte sich, als die Frau mit den Getränken zurückkehrte, seinem Sitznachbarn zur Rechten zu.
Evelyn stellte Marco ein Glas vor die Nase, er bedankte sich mit einem stummen Nicken.
»Also?« Sie lächelte weiterhin, stur und beharrlich.
»Was also?« Er nahm einen Schluck.
»Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Eigentlich noch nie.« Evelyn roch gut. Sie hatte einen Duft aufgetragen, der ihn verwirrte.
»Und warum ist das so?«
»Na ja … wir haben nichts gemeinsam.« Evelyn sah gut aus. Sie war vierundvierzig Jahre alt, wie alle hier im Raum, war großgewachsen und besaß eine gute Figur mit Rundungen dort, wo er sie gerne sah.
»Woher willst du das wissen?«
»Na ja, weil … verdammt, Evi, was willst du von mir? Wir konnten uns schon während der Schulzeit nicht gut leiden.«
»Und das muss auch jetzt noch so sein? Es sind fünfundzwanzig Jahre vergangen, seitdem wir das Abitur gemacht haben. Wir sind reifer geworden, haben uns verändert. Ich habe mich verändert.«
»Wir leben in völlig verschiedenen Welten, Evi.« Marco schluckte die Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. Dass sie aus reichem Haus stammte und standesgemäß geheiratet hatte. Dass ihr nie etwas abgegangen wäre. Dass sie alles einem ganz bestimmten Lebensbild untergeordnet hatte, in dem stets der materielle Wohlstand im Vordergrund gestanden hatte. Er hingegen … Nun, er lebte. Er dachte nicht weit voraus und nahm die Tage, wie sie kamen.
»Zeig mir deine Welt, Marco.«
»Du wirst sie nicht mögen. Sie ist … schmutzig und unsortiert.«
»Vielleicht gefällt mir gerade das an dir?« Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Das Schmutzige und Ordinäre.«
Evi war ihm verdammt nahe. Er fühlte den warmen Hauch ihres Atems auf seiner Wange. Der oberste Knopf der Bluse war offen und die Beine so übereinandergeschlagen, dass der Rockschlitz einen Blick auf ihre Oberschenkel frei ließ.
»Ist dir heiß?«, fragte sie.
»J… ja.« Marco fehlten die Worte. Der Abend des Klassentreffens nahm eine völlig unerwartete Wendung. Ausgerechnet Evi, ausgerechnet die Dumpfbacke …
Sie nahm einen Bierdeckel und steckte ihn in ihre Handtasche.
»Was hast du damit vor?«
Evelyn zuckte mit den Achseln und antwortete: »Ich sammle alle möglichen Dinge. Möchtest du mich auf meinem Spaziergang begleiten? Hier ist nicht sonderlich viel los.«
Oh ja, das Klassentreffen war langweilig. Leute, die sich bereits vor fünfundzwanzig Jahren nicht sonderlich gut verstanden hatten, saßen sich nun gegenüber und ödeten sich an. Sie waren einander
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