Hotel van Gogh
heute, sondern schon immer, von Anfang an.
»Diese verfluchte Krankheit, Theo! Jetzt ist es zu spät, meine Reise geht zu Ende.«
»Du hast dich weiter vorgewagt als jeder andere. Du warst deiner Zeit voraus, doch nun holt dich die Zeit ein. Glaube mir, der Erfolg ist zum Greifen nah gerückt, so viel verstehe ich von meinem Geschäft.«
Vincent schweigt, als hänge er anderen Gedanken nach. Theo ist sich nicht sicher, dass sein Bruder ihn überhaupt gehört oder verstanden hat. Wahrscheinlich wäre es nie so weit gekommen, wenn er Vincent nicht über all die Jahre finanziell gefördert hätte. Ihre Partnerschaft war ja ursprünglich seine Idee gewesen: Er würde Vincent monatlich das zum Leben notwendige Geld vorstrecken und ihn mit Leinwänden und Farben versorgen, damit er frei von jeder materiellen Belastung arbeiten könne. Dafür überstellte ihm Vincent jedes seiner Werke, bis eines Tages sämtliche Kosten durch die Verkäufe wieder abgedeckt sein würden. Ohne seine Hilfe hätte Vincent die Malerei längst aufgegeben und sich auf etwas anderes gestürzt, wie immer. Ohne Theo wären Vincent die herben Enttäuschungen durch den Markt, die Absagen der Galeristen und Sammler, erspart geblieben. Er wäre nie dem Wahnsinn verfallen.
»Hast du dich mittlerweile wenigstens um die Bilder gekümmert, die du bei dem alten Tanguy eingelagert hast? In diesem feuchten und verschimmelten Raum? Am liebsten wäre es mir, wenn du die Leinwände aus dem Rahmen nehmen und sie zusammengerollt nach Auvers schicken würdest. Ich lasse sie dann am Bahnhof von einem Gepäckträger abholen. Hier bei mir sind sie auf alle Fälle besser aufgehoben.«
Theo übergeht die Vorwürfe. Er klammert sich an das Positive, dass Vincent Pläne schmiedet, zumindest für seine Bilder. Nur wenn er noch einen Sinn im Leben sieht, für den es sich zu kämpfen lohnt, besteht Aussicht auf Besserung.
»Ich kümmere mich darum, Vincent, verlass dich auf mich.«
»Das sagst du immer, aber was geschieht dann schon! Meine Arbeiten sind nicht die besten, aber schlecht sind sie auch nicht. Überhaupt geht es mir in erster Linie um die Bilder von Gauguin und Guillaumin und Cézanne und all den anderen, mit denen wir über die Jahre getauscht haben. Das verrottet nun beim alten Tanguy! Was verlange ich schon viel von dir!«
»Wo willst du sie denn hier lagern, Vincent? Außerdem müssen deine Bilder in Paris greifbar sein, gelegentlich erkundigen sich Sammler und möchten sie sehen.«
Vincent raucht stumm vor sich hin. Vielleicht stellt er sich diese fremden Menschen in Theos Galerie beim Betrachten seiner Bilder vor.
»Mein neuestes Bild von Daubignys Garten halte ich übrigens für eines meiner besten überhaupt. Die Wiese rosa und grün, ein Nussbaum mit violetten Blättern und einige zurechtgestutzte gelbe Linden. Das Haus in Rosa mit bläulichen Ziegeln. Im Vordergrund schleicht diese schwarze Katze, aber meine Farben erdrücken das Schwarz der Katze. Meine Farben sind stärker als das Schwarz. Was hältst du davon?«
Theo blickt sich um, ohne das beschriebene Bild im Durcheinander der zum Trocknen aufgestellten Leinwände zu entdecken. Überall die gelbbraunen Landschaftsbilder mit den Weizenfeldern, über denen bedrohlich schwarze Raben schweben.
»Du gehst mit den Worten wie mit Farben um, wenn du deine Bilder beschreibst.«
Theo hat den Eindruck, als komme es Vincent auf seine Antworten gar nicht an oder als sei er mit seinen Gedanken bereits weitergezogen. Unvorstellbar, dass er keine Schmerzen hat. Aber darüber klagt er nicht.
»Man muss mehrere meiner Bilder nebeneinander sehen, um sie zu verstehen. Etwa ein hellrosa Bild neben einem in Hellgrün oder Gelbgrün, also in den Komplementärfarben zu Rosa. Irgendwann werden die Leute diese merkwürdigen Beziehungen verstehen. Nicht anders als unterschiedliche Seiten der Natur, die sich gegenseitig erklären.«
Theo wird von einem weiteren Brechreiz befallen. Er geht in die Gaststube hinunter, um etwas zu trinken, außerdem braucht er dringend frische Luft. Vincent starrt abwesend vor sich hin, als bemerke er nicht, dass Theo das Zimmer verlässt.
Dr. Gachet reicht ihm unaufgefordert ein Glas trübbraunen Apfelschnaps, der wie Feuer durch Theos Körper brennt. Seine Augen tränen, aber der Brechreiz legt sich. Alle blicken ihn erwartungsvoll an.
»Mein Bruder unterhält sich mit mir, er spricht vor allem über seine Bilder, über die Farben und Stimmungen, um die es ihm dabei geht.
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