Hotel van Gogh
dem Abendessen die Herberge verlassen, um den Abendhimmel über den Weizenfeldern zu malen. Niemand wisse genau, wie er an die Pistole des Wirts gekommen sei, jedenfalls habe er mit dieser auf sich geschossen. Nach seiner Rückkehr sei er schweigend durch die Gaststube gegangen, zwar unsicher in seinen Bewegungen, aber niemand habe etwas geahnt. Bis der Wirt auf Drängen seiner Frau später nachsah und Vincent in seinem Bett in einer Blutlache fand.
Theo blickt Hirschig schweigend von der Seite an. Unerklärlich, dass niemand, insbesondere auch nicht Dr. Gachet, die sprunghaften Änderungen in Vincents Verhalten aufgefallen sind. Aber möglicherweise wirkte er nach außen auch völlig normal, dagegen fühlte er sich in seinem inneren Durcheinander von aller Welt abgeschnitten und plötzlich sah er keinen anderen Ausweg.
Rückblickend war es ein Fehler, dass er und Johanna Vincent am Sonntag vor drei Wochen nach Paris eingeladen hatten. Der Lärm und das verwirrende Durcheinander der Städte hatten Vincent seit jeher verstört und aufs Tiefste verunsichert. Insbesondere das unbändige Paris, obwohl es gleichzeitig eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Eindringlich hatte Vincent ihn damals angefleht, ihn aus der Anstalt von St. Rémy heraus nach Paris zu holen, um diesen Irren und vor allem diesem prachtvollen und doch so unheimlichen Süden zu entfliehen. In Paris wollte er die von einer nächtlichen Gasbeleuchtung erhellte Buchhandlung in der Nähe von Theos Wohnung malen. Eine Oase der Ruhe in der unstet treibenden Großstadt. Die beruhigende Macht des Gelbs. Aber bevor er mit seinem milden Gelb die rastlose Stadt besänftigen konnte, hatte ihn das aufregende Paris bereits wieder vertrieben.
Vincent war an jenem Sonntag vor drei Wochen allerdings nur wenige Stunden bei ihnen zu Besuch. Zum Mittagessen hatte er noch mit Toulouse-Lautrec über einen Leichenbestatter gescherzt, dem sie im Treppenhaus begegnet waren. Vincent war bester Laune gewesen. Die fatale Wirkung des Besuchs musste sich erst später eingestellt haben, als er allein in den Weizenfeldern von Auvers über Theos unbeständige Gesundheit und seine berufliche Unsicherheit nachdachte, sollte er die Anstellung bei der Kunsthandlung verlieren; eine Schlinge, die sich immer enger zuzog. Irgendwann wurde sich Vincent bewusst, wie sehr dadurch auch seine eigene Existenz bedroht war, die regelmäßigen Zuschüsse des Bruders, die er jahrelang so selbstverständlich hingenommen hatte.
Vincent spürte mit einem Mal, wie anfällig seine und damit ihre gemeinsame Basis war, der Sturm, der sich um ihn und Theos Familie zusammenbraute. Genauso hatte er es in einem Brief nach dem Besuch beschrieben: seine Angst vor dem Leben und die Unsicherheit, wie es weitergehen sollte. Düstere Wolken und dunkle Raben, die unheilvoll ihre Kreise über den brachliegenden Weizenfeldern ziehen. Je länger Vincent in dieser brütenden Julihitze grübelte, umso mehr muss ihn das Gefühl der völligen Ohnmacht überkommen haben. Nichts, das er selbst zur Lösung der Krise hätte beitragen können, außer stapelweise neue unverkäufliche Bilder zu malen, deren Lagerung auch nicht gerade billig war.
Ich hätte Vincent nie mit meinen Geldproblemen belasten dürfen, denkt Theo, bei seiner zerbrechlichen Veranlagung! Alles ist meine Schuld!
Er blickt zu Hirschig, der neben ihm übernächtigt dahindöst. Niemand sieht seine Tränen.
Vincent hatte nie eine wirkliche Chance, vom Pariser Kunstmarkt anerkannt zu werden. Erst vor zehn Jahren hatte er sich der Malerei zugewandt, nachdem er zuvor als Kunsthändler und dann als Missionar kläglich gescheitert war. In einem Alter, in dem sich andere längst einen Namen gemacht hatten. Der Markt vergibt nicht. Späteinsteiger bleiben als Dilettanten abgestempelt, umso mehr als Vincent kompromisslos sich allen Konventionen der akademischen Malerei verweigert hatte.
Niemand weiß dies besser als Theo. Trotzdem bietet er unverdrossen mit einer fast messianischen Überzeugung Sammlern die Gemälde seines Bruders an. Mittlerweile zeigen sich auch erste Erfolge. Vor wenigen Wochen war es Theo gelungen, eins von Vincents Bildern an die mit ihnen befreundete belgische Malerin Anna Boch zu verkaufen. Endlich konnte er Vincent einen Verkaufserfolg melden, das ersehnte Zeichen beginnender Anerkennung! Jedoch anstatt sich darüber zu freuen, warf ihm Vincent vor, dass er zu viel für das Bild verlangt habe.
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