Hueter der Erinnerung
würden sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollten, und bei ihm
Rat suchen.
Der Geber würde ins Auditorium gehen, wo das Volk noch immer versammelt sein würde. Er würde auf die Bühne gehen und sie um
ihre Aufmerksamkeit bitten.
Dann würde er offiziell verkünden, dass Jonas im Fluss ertrunken sei, und mit der üblichen Verlustfeier beginnen.
»Jonas, Jonas«, würden alle laut rufen, so wie einst den Namen Caleb. Der Geber würde den Singsang anstimmen. Gemeinsam würden
sie Jonas’ Existenz aus ihrem Leben verblassen lassen, während sie seinen Namen allmählich immer langsamer sprechen würden,
leiser und leiser, bis er von ihnen verschwand, bis er nur noch ein gelegentliches Gemurmel war, und dann, am Ende des langen
Tages, wäre er für immer aus ihren Köpfen verschwunden.
Sie würden sich mit aller Kraft darauf konzentrieren müssen, ihre Erinnerungen fortan selbst zu tragen. Der Geber würde ihnen
dabei helfen.
»Ja, ich verstehe, dass sie Euch brauchen werden«, hatte Jonas am Ende der langen, ausführlichen Diskussion über diesen Plan
gesagt, »aber ich werde Euch ebenfalls brauchen. Bitte, kommt mit mir!«Aber natürlich hatte er die Antwort bereits im Voraus gekannt.
»Meine Arbeit hier ist erst dann beendet«, hatte der Geber nachsichtig geantwortet, »wenn ich der Gemeinschaft geholfen habe,
die tief greifende Veränderung anzunehmen, und wenn die Bürger ganzheitlich geworden sind. Ich bin dir sehr dankbar, Jonas,
denn ohne dich wäre mir keine Möglichkeit eingefallen, diese Veränderung herbeizuführen. Aber deine Rolle besteht darin zu
fliehen. Meine ist es, zu bleiben.«
»Aber
wollt
Ihr wirklich nicht mit mir kommen, Geber?«, hatte Jonas traurig gefragt.
Der Geber umarmte ihn. »Ich habe dich sehr, sehr lieb, Jonas«, sagte er. »Aber ich muss an einen anderen Ort. Wenn ich meine
Aufgabe hier erfüllt habe, möchte ich zu meiner Tochter gehen.«
Jonas hatte trübsinnig auf den Fußboden gestarrt. Jetzt blickte er überrascht auf. »Ich wusste gar nicht, dass Ihr eine Tochter
habt, Geber! Ihr habt mir nur von einer Ehepartnerin erzählt. Von einer Tochter habt Ihr kein Wort gesagt!«
Der Geber nickte lächelnd. Zum ersten Mal in all den Monaten, die sie bisher zusammen verbracht hatten, fand Jonas, dass der
Geber richtig glücklich aussah.
»Ihr Name war Rosemary«, sagte er mit sehnsuchtsvoller Stimme.
21
Es würde klappen. Er konnte es schaffen, sagte sich Jonas den ganzen Tag über immer und immer wieder.
Doch am Abend sah plötzlich alles anders aus. Alles, was er und der Geber so sorgfältig und umsichtig geplant hatten, fiel
plötzlich wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Jonas sah sich gezwungen, noch in derselben Nacht zu fliehen. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als die Wege der Gemeinschaft
verlassen dalagen, verließ er das Haus seiner Eltern. Das war schrecklich gefährlich, weil noch einige der Arbeitertrupps
unterwegs waren, doch er blieb vorsichtig im Schatten der Häuser und sah sich verstohlen um, ehe er den leeren Großen Platz
überquerte und seinen Weg in Richtung des Flusses fortsetzte. Auf der anderen Seite des Großen Platzes konnte er das Altenzentrum
sehen und auch der Anbau zeichnete sich gegen den nächtlichen Himmel ab. Aber er hatte keine Zeit, sich vom Geber zu verabschieden.
Jede Sekunde war kostbar. Jede Sekunde, die ihn weiter von der Gemeinschaft wegführte.
Endlich war er auf der Brücke, kauerte sich über den Lenker und radelte in gleichmäßigem Tempo. Tief unter sich konnte er
das dunkle, aufgewühlte Wasser des Flusses sehen.
Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er keine Angst hatte und auch kein Bedauern verspürte, die vertraute Gemeinschaft
hinter sich zu lassen. Nur der Gedanke, dass er seinen engsten Freund und Vertrauten zurückließ, erfüllte ihn mit großer Trauer.
Er wusste, dass er auf seiner Flucht keinen Laut von sich geben durfte, aber aus seinem Herzen drang ein lautloser, sehnsüchtiger
Schrei, den der Geber, wie er hoffte, dank seiner hellhörigen Fähigkeit, über die Dinge hinauszuhören, vernehmen würde. Er
würde wissen, dass Jonas sich soeben von ihm verabschiedet hatte.
Es war beim Abendessen passiert. Jonas’ Familie saß wie immer beisammen: Lily plauderte unbekümmert, Mutter und Vater gaben
ihre üblichen Kommentare (und Lügen, wie Jonas nunmehr wusste) über den vergangenen Arbeitstag ab. In ihrer Nähe spielte Gabriel
fröhlich auf
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