Wolfsmale
Prolog
Sie stößt mit dem Messer zu.
Dieser Moment, das weiß sie aus früheren Erfahrungen, ist sehr intim.
Ihre Hand hält den kühlen Griff des Messers umklammert, und die Wucht lässt die Klinge bis zum
Heft in die Kehle eindringen, bis ihre Hand die Kehle berührt. Fleisch auf Fleisch. Erst Jacke
oder Wollpullover, Baumwollbluse oder T-Shirt, dann Fleisch. Jetzt dehne. Das Messer bewegt sich
hektisch hin und her wie ein schnupperndes Tier. Warmes Blut fließt über Heft und Hand. (Die
andere Hand hält den Mund zu, um Schreie zu ersticken.) Das ist der große Augenblick. Eine
Begegnung. Eine Berührung.
Der Körper ist heiß, klafft auf, ist warm vom Blut. Siedet innerlich, während sich das Innere
nach außen ergießt. Brodelt. Viel zu schnell ist der Augenblick vorbei.
Und sie verspürt immer noch Hunger. Das ist nicht richtig, ist ungewöhnlich, doch sie verspürt
ihn. Sie entfernt einen Teil der Kleidung, sogar eine ganze Menge Kleidung, vielleicht mehr als
nötig ist. Und sie tut, was sie tun muss. Wieder gleitet das Messer hin und her. Sie hat die
Augen fest zugekniffen. Diesen Teil mag sie nicht. Sie hat ihn noch nie gemocht, nicht damals,
nicht jetzt. Aber besonders nicht damals.
Schließlich nimmt sie die Zähne aus dem Mund und drückt sie tief in den weißen Bauch, bis sie
einen ansehnlichen Bissen gepackt haben, und flüstert, wie sie es immer tut, dieselben fünf
Wörter.
»Es ist nur ein Spiel.«
Es ist bereits Abend, als George Flight den Anruf erhält. Sonntagabend.
Der Sonntag sollte doch eigentlich der Entspannung dienen - Rinderbraten mit Yorkshire Pudding,
die Füße vor dem Fernseher hoch gelegt, dass einem die Zeitung vom Schoß rutscht. Aber er hatte
schon den ganzen Tag ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Am Mittag im Pub hatte er es gespürt, ein
Kribbeln in den Eingeweiden, als ob dort Würmer wären, kleine blinde weiße Würmer, hungrige
Würmer, Würmer, die keine Ruhe geben würden.
Er wusste, woher sie kamen, und sie wussten, woher sie kamen. Und dann hatte er auch noch bei der
Pub-Tombola den dritten Preis gewonnen: einen ein Meter großen, orange-weißen Teddybär. Selbst
die Würmer hatten ihn in dem Moment ausgelacht, und er hatte gewusst, dass der Tag übel enden
würde.
Wie er es nun auch tat, wo das Telefon so penetrant klingelte wie die Glocke zur letzten Runde.
Es würde eine schlechte Nachricht bringen, die nicht bis zum nächsten Morgen warten konnte. Er
wusste natürlich, was das bedeutete. Hatte er nicht während der letzten Wochen die ganze Zeit
darauf gewartet? Trotzdem hatte er keine Lust, den Hörer abzunehmen. Schließlich tat er es
doch.
»Flight am Apparat.«
»Es hat einen weiteren gegeben, Sir. Der Wolfsmann. Er hat einen weiteren Mord begangen.«
Flight starrte auf den stummen Fernseher. Highlights aus dem Rugbyspiel vom vergangenen Tag.
Erwachsene Männer, die hinter einem eigenartig geformten Ball herliefen, als ginge es um ihr
Leben. Und gegen eine Seite des Fernsehers gelehnt saß dieser süffisant grinsende Preis, der
Teddybär. Was, zum Teufel, sollte er mit einem Teddybären anfangen?
»Okay«, sagte er, »sagen Sie mir einfach, wo...«
»Schließlich ist es doch nur ein Spiel.«
Rebus nickte dem Engländer ihm gegenüber am Tisch lächelnd zu. Dann starrte er wieder aus dem
Fenster und tat so, als würde ihn die vorbeifliegende dunkle Landschaft interessieren. Der
Engländer hatte es nicht nur einmal, er hatte es ein Dutzend Mal gesagt. Und er hatte kaum etwas
anderes während der Fahrt gesagt. Außerdem nahm er Rebus immer mehr kostbare Beinfreiheit,
während seine Sammlung leerer Bierdosen sich immer weiter auf dem Tischchen ausbreitete, in
Rebus' Hälfte eindrang und gegen den ordentlich gefalteten Stapel von Zeitungen und Zeitschriften
stieß.
»Fahrkarten, bitte!«, brüllte der Schaffner vom anderen Ende des Wagens.
Also suchte Rebus seufzend zum dritten Mal, seit er in Edinburgh abgefahren war, nach seiner
Fahrkarte. Sie war nie dort gewesen, wo sie seiner Meinung nach hätte sein müssen. In Berwick
hatte er geglaubt, sie wäre in seiner Hemdtasche. Da war sie in der Brusttasche seiner Harris
-Tweedjacke gewesen. In Durham hatte er dann in der Jacke nach ihr gesucht und sie schließlich
unter einer der Zeitschriften auf dem Tisch gefunden. Nun, zehn Minuten vor Peterborough, war sie
in die Gesäßtasche seiner Hose gewandert. Er nahm sie heraus und hielt sie in der Hand, bis der
Schaffner bei ihm war.
Die
Weitere Kostenlose Bücher