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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Gedanken, einer Erschießung beiwohnen zu müssen. Er zog das Haus vor. Mit zwölf Jahren fragte er Ursula, was in der verriegelten Kammer sei. »Papiere«, erwiderte sie. »Melchíades' Bücher und das sonderbare Zeug, das er in seinen letzten Jahren aufgeschrieben hat.« Statt ihn zu befriedigen, vermehrte die Antwort nur seine Neugierde. So ließ er nicht locker und versprach so inständig, die Gegenstände gut zu behandeln, daß Ursula ihm den Schlüssel gab. Niemand hatte sie betreten, seit man Melchíades' Leichnam herausgetragen und vor die Tür ein Schloß gehängt hatte, dessen einzelne Teile vom Rost zusammengeschweißt waren. Doch als Aureliano Segundo die Fenster öffnete, drang vertrautes Licht herein, das gewohnt schien, das Zimmer alltäglich zu erhellen, und dieses wies nicht die geringste Spur von Staub oder Spinnweben auf, sondern war gefegt und säuberlich, besser gefegt und säuberlicher als am Tag der Beerdigung; die Tinte im Tintenfaß war noch nicht eingetrocknet, auch hatte das Oxyd den Glanz der Metalle nicht verdunkelt, die Loderasche der Brunnenröhre, in der José Arcadio Buendía sein Quecksilber verdunstet hatte, war gleichfalls noch nicht erloschen. Auf den Borden standen die in steifes, bleiches Material wie gegerbte Menschenhaut gebundenen Bücher, standen die unbeschädigten Handschriften. Trotz der Abgeschlossenheit schien die Luft der Kammer reiner als im übrigen Haus. Alles war so frisch, daß mehrere Wochen später, als Ursula mit einem Eimer Wasser und einem Schrubber zum Putzen ins Zimmer trat, sie nichts zu tun fand. Aureliano Segundo war in die Lektüre eines Buches versunken. Wenngleich der Band weder Einband noch Titel hatte, erfreute der Junge sich an der Geschichte einer Frau, die sich zu Tisch setzte und nur Reiskörner aß, die sie mit Nadeln aufpickte, desgleichen an der Geschichte von dem Fischer, der seinen Nachbarn um Bleigewichte für sein Netz bat, und der Fisch, mit dem er ihn später belohnte, hatte einen Diamanten im Bauch; endlich freute er sich an der Geschichte von der Lampe, die alle Wünsche erfüllte, und an der von den Teppichen, die fliegen konnten. Verwundert fragte er Ursula, ob das alles wahr sei, worauf sie erwiderte: Ja, denn vor vielen Jahren hätten die Zigeuner die Wunderlampen und die fliegenden Teppiche nach Macondo gebracht.
    »Freilich geht die Welt nach und nach zu Ende«, seufzte sie. »Diese Dinge kommen heute nicht mehr vor.«
    Als er das Buch beendet hatte, dessen Erzählungen infolge von fehlenden Seiten großenteils unvollkommen waren, machte Aureliano Segundo sich an die Aufgabe, die Manuskripte zu entziffern. Es mißlang. Die Buchstaben sahen aus wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche und glichen eher Noten als Schrift. Eines glühendheißen Mittags, als er die Manuskripte prüfte, fühlte er, daß er nicht allein im Zimmer war. Im Widerglanz des Fensters, die Hände auf den Knien, saß Melchíades. Er war nicht älter als vierzig Jahre. Er trug dieselbe anachronistische Weste und den Schlapphut mit rabenschwingengleicher Krempe, und an seinen bleichen Schläfen troff die in der Hitze zergangene Pomade herunter, wie Aureliano und José Arcadio es noch als Kinder gesehen hatten. Aureliano Segundo erkannte ihn sofort, weil diese Erberinnerung sich von einer Generation auf die andere übertragen hatte und vom Gedächtnis des Großvaters auf ihn gekommen war.
    »Gott zum Gruß!« sagte Aureliano Segundo.
    »Gott zum Gruß, junger Mann«, sagte Melchíades.
    Seither sahen sie sich mehrere Jahre hindurch fast jeden Nachmittag. Melchíades sprach ihm von der Welt, suchte ihm seine alte Weisheit einzuimpfen, weigerte sich aber, seine Manuskripte zu übersetzen. »Niemand darf ihren Sinn kennenlernen, solange nicht hundert Jahre vorbei sind«, sagte er. Aureliano Segundo bewahrte für immer das Geheimnis dieser Unterredungen. Einmal fühlte er, daß seine private Welt zusammenbrach, weil Ursula in einem Augenblick ins Zimmer trat, als Melchíades da war. Doch sie sah ihn nicht.
    »Mit wem sprichst du?« fragte sie.
    »Mit niemandem«, antwortete Aureliano Segundo.
    »So war dein Urgroßvater«, sagte Ursula. »Auch er sprach mit sich.«
    Mittlerweile hatte José Arcadio Segundo seinen Wunsch befriedigt, einer Erschießung beizuwohnen. Für den Rest seines Lebens sollte er sich an den bleichen Blitz der sechs gleichzeitigen Schüsse erinnern und an ihr in den Wäldern verhallendes Echo sowie an das traurige Lächeln und die verdutzten Augen

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