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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Schlafzimmer durchflutete. Sie erklärte das Ende der übereinandergeschichteten Trauerzeiten, sie selbst vertauschte ihre alte strenge Tracht mit jugendlicher Kleidung. Wieder erfreute die Musik des Pianola das Haus. Beim Hören dachte Amaranta wieder an Pietro Crespi, an seine Abendgardenie und seinen Lavendelduft, und in der Tiefe ihres welken Herzens erblühte ein sauberer, von der Zeit geläuterter Groll. Eines Nachmittags, als sie das Wohnzimmer aufräumte, bat Ursula die das Haus bewachenden Soldaten um Hilfe. Der junge Kommandant der Wache gab ihnen die Erlaubnis dazu. Nach und nach wies Ursula ihnen neue Aufgaben zu. Lud sie zum Essen ein, schenkte ihnen Wäsche und Stiefel und lehrte sie lesen und schreiben. Als die Regierung die Bewachung aufhob, siedelte einer ins Haus über und blieb viele Jahre in ihrem Dienst. Durch Remedios' der Schönen Gleichgültigkeit um seinen Verstand gebracht, wurde der junge Wachkommandant am Neujahrsmorgen liebestot vor ihrem Fenster aufgefunden.
     

 
     
     
     
     
     
    Jahre später sollte sich Aureliano Segundo auf seinem Sterbebett jenes regnerischen Juninachmittags erinnern, an dem er ins Schlafzimmer trat, um seinen ersten Sohn zu begutachten. Wenngleich er kränklich und weinerlich und keineswegs ein Buendía war, brauchte er nicht zweimal nach einem Namen zu suchen.
    »Er soll José Arcadio heißen«, sagte er.
    Fernanda del Carpio, die bildschöne Frau, die er im Vorjahr geheiratet hatte, war einverstanden; Ursula hingegen konnte ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe nicht verbergen. In der langen Familiengeschichte hatte die hartnäckige Wiederholung der Namen ihr erlaubt, Schlüsse zu ziehen, die ihr gültig erschienen. Während alle Aurelianos verschlossen, aber gescheit waren, stellten die José Arcadios Impulsivität und Unternehmungslust zur Schau, hatten dafür aber eine Neigung zum Tragischen. Die einzigen nicht einreihbaren Fälle waren José Arcadio Segundo und Aureliano Segundo. In ihrer Kindheit waren die beiden so ähnlich und ausgelassen, daß nicht einmal Santa Sofía von der Frömmigkeit sie unterscheiden konnte. Am Tauftag streifte Amaranta ihnen Armbinden mit ihren Namen über und zog ihnen verschiedenfarbige, mit ihren Initialen gezeichnete Kleider an, doch später, als sie in die Schule gingen, beschlossen sie, Kleider und Armbinden auszutauschen und sich selber mit ihren gegenseitigen Namen zu rufen. Meister Melchor Escalona, gewohnt, José Arcadio Segundo am grünen Hemd zu erkennen, geriet aus der Fassung, als er entdeckte, daß dieser Aureliano Segundos Armbinde trug und daß der andere trotzdem Aureliano Segundo zu heißen behauptete, obgleich er das weiße Hemd und das mit José Arcadio Segundo beschriftete Armband anhatte. Seither wußte man nicht mehr mit Sicherheit, wer wer war. Auch als sie heranwuchsen und das Leben sie verschieden prägte, fragte Ursula sich andauernd, ob jene selber in irgendeinem Moment ihres verzwickten Verwechslungsspiels nicht einen Fehler begangen und sich für immer verwechselt hatten. Bis zum Beginn ihrer Jugend waren sie zwei synchronische Mechanismen. Sie erwachten zur selben Zeit, wollten zur selben Stunde aufs Klosett gehen, litten an denselben Leibesbeschwerden und träumten sogar dieselben Dinge. Im Haus, wo man glaubte, sie verabredeten ihre Handlungen, nur um ihre Umwelt zu verwirren, begriff niemand, was wirklich vorging, bis Santa Sofía von der Frömmigkeit eines Tages dem einen ein Glas Limonade reichte und dieser sie noch nicht gekostet hatte, als der andere schon sagte, es fehle Zucker. Santa Sofía von der Frömmigkeit, die tatsächlich vergessen hatte, den Saft zu zuckern, erzählte es Ursula. »So sind sie alle«, sagte sie, ohne überrascht zu sein. »Verrückt von Geburt.« Schließlich brachte die Zeit vollends alles durcheinander. Der, welcher im Spiel der Wirrungen den Namen Aureliano Segundo behielt, wurde monumental wie der Großvater, und der, welcher den Namen José Arcadio Segundo behielt, wurde knöchern wie der Oberst, und den einzigen Zug, den sie beide bewahrten, war die Familieneinsamkeit. Vielleicht brachte diese Umkehrung von Statur, Namen und Charakter Ursula auf die Vermutung, daß sie seit ihrer Kindheit vertauscht waren.
    Die entscheidende Ungleichheit trat mitten im Krieg zutage, als José Arcadio Segundo Oberst Gerineldo Márquez bat, ihn zu den Erschießungen mitzunehmen. Gegen Ursulas Wunsch bekam er seinen Willen. Aureliano Segundo hingegen zitterte bei dem bloßen

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