Hundert Jahre Einsamkeit
verschieden entpuppen konnten. Doch ihre Verblüfftheit dauerte nicht lange, weil Aureliano Segundo sehr bald Zeichen von Müßiggang und Verschwendung an den Tag legte. Solange er sich in Melchíades' Kammer eingeschlossen hatte, war er ein Eigenbrötler gewesen wie Oberst Aureliano Buendía in seiner Jugend. Doch kurz vor dem Vertrag von Neerlandia entriß ihn ein Zufall seiner Eigenbrötelei und stellte ihn vor die Wirklichkeit. Eine junge Frau, die Lose für den Gewinn eines Akkordeons verkaufte, grüßte ihn mit großer Vertrautheit. Aureliano Segundo war nicht überrascht, weil er häufig mit seinem Bruder verwechselt wurde. Doch der Irrtum wurde auch dann nicht aufgeklärt, als das Mädchen ihn mit Weinerlichkeiten zu erweichen suchte und ihn schließlich in ihre Kammer mitschleifte. Sie gewann ihn von ihrer ersten Begegnung an so lieb, daß sie ihre Lose zinkte, um ihm das Akkordeon zuzuschanzen.
Nach Ablauf von zwei Wochen merkte Aureliano Segundo, daß die Frau abwechselnd mit ihm und seinem Bruder schlief, im Glauben, sie seien ein und derselbe Mann, doch statt die Lage aufzuklären, sorgte er dafür, daß sie andauerte. Nun kehrte er nicht in Melchíades' Zimmer zurück, sondern verbrachte die Nachmittage im Innenhof, wo er nach dem Gehör Akkordeon zu spielen lernte, gegen Ursulas Einspruch, die zu jener Zeit aus Trauergründen jede Musik im Haus verboten hatte und übrigens das Akkordeon als ein Landstreicherinstrument ansah, würdig der Erben Francisco-des-Mannes. Dennoch wurde Aureliano Segundo ein Akkordeonvirtuose und blieb es auch, nachdem er heiratete, Kinder bekam und einer der geachtetsten Männer Macondos wurde.
Nahezu zwei Monate lang teilte er die Frau mit seinem Bruder. Er überwachte ihn, er vereitelte seine Pläne, und wenn er sicher war, daß José Arcadio Segundo die gemeinsame Geliebte am bevorstehenden Abend nicht besuchen würde, ging er hin und schlief mit ihr. Eines Morgens entdeckte er, daß er krank war. Zwei Tage später fand er seinen Bruder an einen Balken des Bades geklammert, schweißüberströmt, heiße Tränen vergießend, und er begriff. Sein Bruder gestand, die Frau habe ihn verstoßen, weil er ihr das mitgebracht habe, was sie die Krankheit des schlechten Lebens nannte. Erzählte ihm auch, wie Pilar Ternera ihn zu heilen suchte. Aureliano Segundo unterzog sich heimlich den kochendheißen Waschungen mit Permanganat und mit diuretischem Wasser, und beide heilten sich getrennt nach drei Monaten heimlicher Leiden. José Arcadio Segundo kehrte nicht mehr zu der Frau zurück.
Aureliano Segundo empfing ihre Vergebung und behielt sie bis zum Tod.
Sie hieß Petra Cotes. Sie war mitten im Krieg nach Macondo gekommen, und zwar mit einem Gelegenheitsgatten, der von Lotterien lebte, und als der Mann starb, führte sie sein Geschäft weiter. Sie war eine saubere junge Mulattin mit gelblichen, mandelförmigen Augen, die ihrem Gesicht die Wildheit eines Pantherweibchens verliehen, doch besaß sie ein edelmütiges Herz und eine prachtvolle Begabung für die Liebe. Als Ursula merkte, daß José Arcadio Segundo Hahnenkampfzüchter war und Aureliano Segundo bei den lärmenden Festen seiner Konkubine Akkordeon spielte, glaubte sie vor Bestürzung verrückt zu werden. Es war, als hätten sich alle Fehler der Familie und keine ihrer Tugenden in ihnen vereinigt. Und sie beschloß, nie wieder solle ein Nachkomme Aureliano und José Arcadio heißen. Als Aureliano Segundo jedoch seinen ersten Sohn bekam, wagte sie nicht, ihm zu widersprechen.
»Einverstanden«, sagte Ursula. »Doch unter einer Bedingung: daß ich ihn aufziehe.«
Wenngleich sie schon eine Hundertjährige war und am grauen Star zu erblinden drohte, waren ihre körperliche Triebkraft, ihre Charakterstärke und ihre geistige Ausgeglichenheit ungebrochen. Es gab niemand Geeigneteren, um jenen tugendhaften Menschen heranzubilden, der den Ruf der Familie wiederherstellen sollte, einen Mann, der weder vom Krieg gehört hatte noch von Kampfhähnen, von Freudenmädchen und Wahnsinnsunternehmungen — vier Verhängnisse, die, so dachte Ursula, den Verfall ihrer Sippe herbeigeführt hatten. »Dieser soll Priester werden«, gelobte sie feierlich. »Und wenn Gott mir Leben schenkt, soll er's bis zum Papst bringen.« Alle lachten, als sie es hörten, nicht nur im Schlafzimmer, sondern im ganzen Haus, wo Aureliano Segundos lärmende Kumpane versammelt waren. Der auf den Dachboden böser Andenken verbannte Krieg wurde vorübergehend vom
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