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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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meinen Fehler ein und wollte nur noch aus Kigali verschwinden. Ich wusste von einer Maschine der Air France, die am folgenden Sonntag die letzten Europäer ausfliegen sollte, und ich würde in diesem Flugzeug sitzen. Mit Agathe, der ich über meinen Gärtner Théoneste eine Nachricht in die Avenue de la Jeunesse bringen ließ. Ich packte, ich wusste, sie würde kommen. Dieser Spuk bliebe eine Episode in unserem Leben, über die wir schon bald unsere Scherze treiben würden. Doch sie kam nicht. Und ich blieb in Haus Amsar, hundert Tage blieb ich dort, und manchmal sitze ich immer noch in jenen Mauern, und die Angst befällt mich wieder, ich höre Schreie und den Kriegslärm, fühle den Hunger wieder und den Durst.
    Théoneste versorgte mich alle paar Tage mit Wasser, brachte etwas gekochten Reis und manchmal eine Flasche Bier. Er war gut zu mir, auch wenn er nicht gut zu anderen war, aber das wusste ich da noch nicht. Wir spielten auf der Veranda Tufi, er brachte mir die Neuigkeiten über den Frontverlauf, über die Flüchtlingsströme und hin und wieder ein Gerücht, etwa dass Agathe die Stadt verlassen habe oder im Militärlager die Verwundeten pflege – das Gerede wechselte von Tag zu Tag. Sicher war nur, dass ihr Haus, der Stammsitz ihrer Familie, schon in den ersten Apriltagen von einer Granate getroffen worden war, aber niemand wusste, ob es Tote oder Verletzte gegeben hatte.
    In den Ruinen hausten Flüchtlinge aus dem Norden, und wenn ich tagsüber auf das Dach stieg, konnte ich jenseits der Sümpfe des Nyabugogo die Stellungen der Rebellen sehen. Mit jedem Tag kamen sie näher, die Regierungstruppen kontrollierten nur noch die zentralen Hügel mit der Gendarmerie, dem Militärlager und den Ministerien, und es war klar, dass sie Kigali nicht würden halten können. Die Übergangsregierung verließ die Hauptstadt in den ersten Tagen nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine, und genau genommen gab es für die Truppen nichts mehr zu verteidigen. Sie hielten bloß die Stellung, damit die Milizen mit ihrer Arbeit fortfahren konnten.
    Und an dieser Stelle verstummt David, blickt sich in seiner Wohnung um, als könnte im nächsten Augenblick jemand aus dem Dunkel treten, das sich mehr und mehr ausbreitet.
    Aber ich hatte andere Probleme. Théoneste tauchte manchmal tagelang nicht auf, und dann brachte er eine kleine Schüssel Reis, ein paar getrocknete Bohnen, die ich einlegen und dann roh essen musste. Ich stellte Töpfe in den Garten, um den Regen zu sammeln – aber es war in diesen Tagen nicht gut, in den Garten zu gehen. Gar nicht gut. Es roch wie bei der Kadaversammelstelle im Lerchenfeld, erinnerst du dich, wo man die tote Katze hinbringen musste, oder das Rind, das die Geburt seines ersten Kalbes nicht überlebt hatte. So roch es, nur unvergleichlich stärker, es war, als säße man selbst in einer der Wannen, in die sie damals die Kadaver legten. Anfangs hielt ich es keine Minute aus, ohne mich zu übergeben. Selbst im Haus war es zu riechen, und ich musste mich zwingen, das Regenwasser zu trinken. Ich hatte von den Leichen gehört, die den Nyabarango hinunter trieben, und ich wurde die Vorstellung nicht los, das Wasser, aus dem wir Menschen zu einem Großteil bestehen, könnte mitverdunsten. Der Regen bestand aus Leichenwasser, und ich hätte viel dafür gegeben, es wenigstens abkochen zu können.
    Der Hunger und der Durst waren nicht das Schlimmste, das Schlimmste war die Dunkelheit, die Nacht, die pünktlich um sechs Uhr abends über das Land fiel und mich zudeckte, wie etwas Physisches, wie ein Tuch oder ein Schwall Pech. Das nächste sichtbare Licht war das der Sterne, und wäre ich ein Wanderer gewesen auf der Suche nach einem Nachtlager, ich hätte mich an sie halten müssen, an den Prokyon im Kleinen Hund, an Ras Alhague im Sternbild des Schlangenträgers. Ich war nicht haushälterisch, schon bald hatte ich meinen Vorrat an Kerzen aufgebraucht und verbrachte die Nächte in vollkommener Finsternis. Es war, als würde ich jeden Abend in ein Fass schwarzer Tinte getaucht, und wenn zwölf Stunden später die Sonne aufging, stechuhrengleich am Horizont, blieb ich als schwarzer Fleck übrig, ein wandelnder Teerbatzen. Ich wagte nicht, in den Spiegel zu blicken, ich fürchtete, die Finsternis sei an mir kleben geblieben wie der Ruß unter den Augen eines Minenarbeiters, wenn er nach seiner Schicht aus dem Schacht steigt.
    Wir sind nicht gemacht für diese Nächte, ich und alle anderen von der Direktion,

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