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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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bedeutete eine große Zahl auf ihrem Spendenkonto.
    Ich fand Agathe im nördlichen Sektor des Lagers Mugunga, mit Sicht auf den Kivu und auf Gisenyi, wo wir uns einst vergnügt hatten. Das heißt, ich fand eine Person, von der man behauptete, es sei Agathe, und obwohl ich ihre Sommersprossen erkannte und der Schirm mit dem Entenkopf neben der Pritsche lag, auf der sie mit dem Tod rang, war es schwierig, in dieser von der Cholera ausgedörrten Person meine Liebe zu erkennen. Von den Lippen, nach denen ich so verrückt gewesen war, war kaum etwas übrig, die Augen waren zwei trockene, schmutzige Tümpel, das Gesicht bis auf den Schädel eingefallen, und das Einzige, das schön war wie immer, glänzend, gesund und makellos, waren ihre Zähne, die zu einem schrecklichen Lachen entblößt lagen. Die Milizionäre, die mit mir im Zelt waren, wurden ungeduldig, zu lange hielten sie hier schon Wache, zu lange hielt sie Agathes Sterben in diesem Zelt fest, ich spürte, wie sie auf ihren Tod drängten, der sie von ihrer Aufgabe erlösen würde, freigeben für die Geschäfte des Überlebens, die draußen auf sie warteten, und ich spürte, wie sie mich für den ausbleibenden Tod verantwortlich machten. Solange ich bei ihr war, würde sie nicht sterben. Ich nahm ihre Hand, die schwer war, weil der ganze Arm daran hing, und ich wusste, dass an einem Sterbebett kein Triumphgefühl aufkommen sollte, und trotzdem befiel mich eine große Befriedigung, als ich in ihren Augen einen letzten Rest Erstaunen zu erkennen glaubte, eine Verwunderung, dass ich es war, der in ihren letzten Momenten bei ihr war. Ich habe es dir immer gesagt, murmelte ich, immer habe ich es dir gesagt, und eine Stimme in meinem Innern begann zu frohlocken, denn unzweifelhaft breitete sich so etwas wie Überraschung auf ihrem Gesicht aus, und zum ersten Mal erkannte ich Agathe, sah ich hinter die Maske, hinter den Spiegel ihrer Augen, in dem ich immer nur mich gesehen hatte, meine Eitelkeit, Vergnügungssucht, meinen Zorn auf dieses Land, und jetzt war da so etwas wie eine Seele, ein Mensch, ein Leben.
    Ich hätte mich in jenem Moment abwenden und gehen sollen, dann würde ich mich heute als Sieger fühlen, dann hätte ich niemals erfahren, wie ich auch dieses Mal alle Zeichen missdeutet hatte. Nicht ich war der Grund für ihre letzte Verblüffung, es war der Tod selbst, der sie überraschte, denn in jenem Moment starb Agathe, und was ich immer noch im Ohr habe, was nicht aus meinem Kopf weichen will, ist dieses Geräusch, wenn die Zunge sich plötzlich vom Gaumen löst, dieses Schnalzen, das am Anfang und am Ende meiner Erinnerung an Agathe steht. Das erste Mal damals auf dem Flughafen gab sie mir damit zu verstehen, wie lächerlich sie mich fand, und das zweite Mal entstand es, weil der Tod ihr alle Kraft nahm und die Zunge in den Rachen fallen ließ, und obwohl dieses Geräusch nicht willentlich erzeugt wurde, verhöhnt es mich seither, geht nicht aus meinen Kopf, denn ich weiß, sie sollte recht behalten, in allem, denn schon bald stand ich am Flugfeld in Goma, und am Horizont erschien ein winziger gleißender Punkt, der sehr bald größer wurde, laut auch, und der große weiße Engel landete, ich sank in seinen Schoß, und er brachte mich zurück in das Land der Unschuldigen, und wen es aufnimmt, der wird auch unschuldig.
    Ich habe in den Jahren danach versucht, jede Aufregung von meinem Leben fernzuhalten, und nur manchmal, wenn ich all die klugen Leute höre und all die schlauen Bücher lese, die seither über diese Zeit geschrieben wurde, dann suche ich in den Stichwortregistern meinen Namen, auch den Namen des kleinen Paul, den Eintrag unter Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, und wenn ich ausnahmsweise fündig werde, dann steht da höchstens, dass wir dort gewesen sind, und vielleicht noch, dass wir von allen Nationen das meiste Geld in dieses Land gesteckt haben. Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch größerer Schurke seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen.
    Ich bin nach meiner Rückkehr durch dieses Land gezogen, und ich habe nur gerechte Menschen gefunden, Menschen, die wissen, was gut

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