Hundert Tage: Roman (German Edition)
mir zu kostbar, um mich wie die meisten meiner Freunde in eine Nische zu verkriechen, die Haare wachsen zu lassen und in irgendeinem besetzten Pferdestall revolutionäre Postillen zu drucken, auch zu schade, um mich auf die andere Seite zu schlagen, als gewöhnlicher Bürolist meinen Teil des Reichtums einzufordern und zuzusehen, wie ich den Mund nur möglichst voll bekommen konnte. Ich wollte mich nicht als Kanonenfutter in den Schützengräben des Kapitalismus verschleißen lassen; wenn ich mich opfern sollte, dann nur für eine große Sache, und dazu musste ich weggehen. Mein Land brauchte mich nicht, doch dort, in Afrika, war noch ein Tausendstel meines bescheidenen Wissens ein Reichtum, und diesen wollte ich teilen.
So setzte ich meine unterbrochene Reise fort und kam eines Abends in Kigali an. Das Erste, was ich wahrnahm, war der Geruch von Holzfeuern, und dazu diese Schwärze. Zu Fuß überquerten wir das Flugfeld, traten dann in das spärlich erleuchtete Flughafengebäude, und ich war ein wenig befangen, als ich an die Zollabfertigung trat, befürchtete, die Belgier hätten ihre Kollegen in Kigali unterrichtet.
Aber alles ging glatt, mein Gepäck hatte ich schon nach wenigen Minuten, und es dauerte nicht lange, bis ich in der Ankunftshalle einen Mann entdeckte, der ein Schild mit meinem Namen trug. Als ich auf ihn zuging, fiel mir auf, dass dieser Mann zu alt für seine langen Haare war, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, zu alt für die Korallenkette um seinen Hals, zu alt und zu untersetzt für die enge Lederhose.
Er stellte sich vor, Missland hieß er, begrüßte mich in der
Kronkolonie
, wie er mit einem breiten Grinsen sagte, und dann fuhr er mich über eine dunkle Straße nach Kigali. Er schwieg, stellte keine Fragen, schien mit den Gedanken bei seinen eigenen Angelegenheiten. Der Wagen war erfüllt von seinem Aftershave und dem Geruch der Halsbonbons, die er in seinem Mund hin und her drehte, und nach einer halben Stunde hielt er vor der Herberge der Presbyterianer, wo ich für die nächsten Tage bleiben sollte, so lange, bis die reguläre Unterkunft von den Spuren meines Vorgängers gereinigt war. Das ebenerdige Zimmer lag zuhinterst in einer offenen Laube. Die Möblierung war einfach, klösterlich, wie es sich für eine christliche Herberge gehörte. Es gab einen Stuhl, einen Tisch und einen Schrank, und an der Decke surrte eine Neonröhre. Das war alles. Missland überreichte mir einige Unterlagen, einen Stadtplan und eine Notiz, wie ich den Weg in die Botschaft finden konnte; dann verabschiedete er sich mit knappen Worten.
Die Verwalterin bot mir eine Mahlzeit an, Kochbananen, die ich nie vorher gegessen hatte, dazu einen trockenen Ziegenspieß, den ich mit starkem Tee hinunterspülte. Bier und alle anderen alkoholischen Getränke waren in dieser Herberge nicht erlaubt, aber die Frau wies mich auf eine Kneipe am Ende der Straße hin, eine gute Gelegenheit, ein erstes Mal die lokale Luft zu schnuppern. Die leicht abfallende Straße war dunkel, an ihrem Ende entdeckte ich einen farbigen Schimmer, den ich für das Wirtshausschild hielt. Ein Hund bellte, und dieses Bellen klang tief und böse, und ich dachte, es sei vielleicht besser, den Kneipenbesuch auf einen anderen Tag zu verschieben und zurück in mein Zimmer zu gehen.
Der Schlaf ließ auf sich warten, ich war zu aufgeregt, meine Seele befand sich noch irgendwo über der Sahara, und wenn ich kurz einschlief, dann riss mich das Stromaggregat, das sich alle paar Minuten hinter dem Haus in Betrieb setzte und dann wieder verstummte, aus schweren Träumen, in denen grinsende Entenköpfe die Hauptrolle spielten.
Ich war fest entschlossen, die Sache in Brüssel zu vergessen, aber die Wunde blieb, und das Leben, das mich in Kigali erwartete, war nicht dazu angetan, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich hatte mir Abenteuer ausgemalt, ich hoffte darauf, täglich mit dem größten menschlichen Elend fertig werden zu müssen, aber tatsächlich bestand meine Arbeit darin, Adresslisten nachzuführen, Projektanträge zu tippen, Drucksachen und frische Stempelkissen zu bestellen. Ich tütete Einladungen für den Empfang zum jährlichen Entwicklungstag ein und bemerkte tagsüber selten, dass ich zwei Grad südlicher Breite saß. Das ehemalige Botschaftsgebäude, in dem das Koordinationsbüro der Direktion untergebracht war, glich einem Vivarium, einem Würfel mit künstlich hergestellten heimatlichen Bedingungen. Die schweren Gardinen
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