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Hundertundeine Nacht

Hundertundeine Nacht

Titel: Hundertundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Arztkittel, komplett mit Stethoskop und meiner Dosierungskladde für Notfälle, stand ich bereit für die Herausforderungen der kommenden Nacht. Zum Glück übernahm ich die Aufnahmestation von Marlies. Bei anderen Berufsgenossen kann es dir passieren, daß sie dir ein fröhliches »alles unter Kontrolle« zuwerfen und verschwunden sind, noch bevor du dir den Arztkittel übergezogen hast. wenn du dich dann umschaust, liegen die Betten voll mit Patienten ohne Krankengeschichte, ohne Untersuchungsbefund und ohne Konzept, und aus den Untersuchungszimmern rufen Leute, die seit Stunden auf einen Arzt warten. Bei Marlies war man vor solchen Überraschungen sicher.

    Heute würde es sowieso bis zum Ende des Spiels ruhig bleiben. Mit einem Auge verfolgten wir die Aufholjagd unserer Mannschaft in Liège, mit dem anderen Auge studierten wir die Speisekarte von der Pizzeria um die Ecke. wir wollten uns etwas kommen lassen, bevor nach dem Fußball der Trubel losgehen würde. Eine der ersten Sachen, die du im Krankenhaus lernst: Esse und schlafe, sobald sich die Möglichkeit dazu ergibt. Es könnte für viele Stunden die letzte sein.

    Ich stritt mich gerade mit Schwester Sophie, ob ich das letztemal Lasagne al forno oder Spaghetti alla Chef genommen hatte, als die automatischen Türen aufflogen und Kollege Schreiber hereinstürmte. Hinter ihm seine Notarztwagen-Rettungssanitäter mit einer Trage und auf der Trage ein Patient mit unserem Rundum-Sorglos-Paket: Er oder sie war intubiert, das tragbare Beatmungsgerät führte zu einem rhythmischen Auf- und Abschwellen des Brustkorbs, mehrere Perfusoren drückten irgendwelche Medikamente wohldosiert in den Körper, und ein EKG-Monitor piepte schön regelmäßig sechzigmal in der Minute.

    Schreiber schrie: »Intensiv, Intensiv, den Schlüssel!«

    Die Rettungssanitäter fragten nach dem Spielstand.

    Patienten, die mit dem Notarztwagen hereinkommen, werden in der Regel direkt auf die Intensivstation »durchgefahren«. Zur Intensivstation fährt ein eigener Fahrstuhl, für den wir auf der Aufnahmestation den Schlüssel haben. Hat ein jüngerer Kollege Dienst auf dem Notarztwagen, entscheidet der Aufnahmedoktor, ob die Intensivstation wirklich nötig ist, bevor er den Fahrstuhlschlüssel herausrückt.

    »Was bringst du uns denn da Schönes, Schreiber?« fragte ich betont lässig, jeder Zoll der erfahrene Altassistent, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Schließlich war das auf der Trage nicht mein Patient.

    »Gib uns den Schlüssel, Hoffmann! Was willst du? Der Mann ist beatmet, braucht volle Kanne Katecholamine und hängt am Schrittmacher. Wollt ihr das hier unten versorgen?«

    Ganz schön keck für einen Doktor, der erst ein knappes Jahr Vollassistent ist, aber sicher stand Schreiber selbst auch unter volle Kanne Streßhormonen. Und darüber hinaus war er sicher auch stolz, daß er das Rundum-Sorglos-Paket ganz alleine geschafft hatte. Wenigstens dafür durfte er ein Lob erwarten.

    »Gut gemacht, Schreiber. Nun laß mich mal gucken.«

    Ich konnte allerdings nur Gesicht und Oberkörper von Schreibers Patienten sehen, der übrige Körper war unter medizinischer Hightech vergraben. Reglose Pupillen saßen in quittegelben Augäpfeln, und der Oberkörper erinnerte an eine große Landkarte, auf der die schmutziggelben Kontinente der Brüste und Schultern die großen dunkelblau-roten Meere auf Brustbein und Oberbauch umspülten. Wir hatten es mit einem Fall von ausgeprägter Gelbsucht mit massiven Einblutungen unter der Haut zu tun, am ehesten mit einem totalen Leberversagen, Prognose äußerst schlecht. Ein Fest für die Intensivstation, allerdings ein Fest mit fast sicher tödlichem Ausgang. Trotz seiner schmutziggelben Farbe kam mir das Gesicht bekannt vor.

    »Du hast recht, Schreiber. Sieht nicht so gut aus.« Ich gönnte mir einen Blick auf die Apparate. »Hast du in letzter Zeit mal auf den EKG-Monitor geguckt?«

    Unbeeindruckt blinkte und piepste der EKG-Monitor vor sich hin. Ein beruhigendes Geräusch, solange man nicht auf den Monitor schaute. Dort war zu sehen, daß zwar das von Schreiber gelegte Schrittmacherkabel sechzigmal in der Minute dem Herzen des quittegelben Patienten einen gutgemeinten kleinen Stromstoß verpaßte, dieses Herz sich aber beim besten Willen nicht mehr zur Arbeit überreden ließ. Patienten haben oft Angst, sie könnten mit einem Herzschrittmacher nicht sterben. Falsch, wie dieser Fall demonstrierte. Dieser Patient war mausetot.

    Schreiber

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