Die Legende von Skriek 1 - Das Attentat
Prolog
Meine Mutter schläft und träumt Bahlunas Traum.
In ihrem Traum hat sie goldene Flügel und schwebt hoch über den weißen Wolken. Der Wind spielt mit ihr und trägt sie weiter und weiter fort. Da taucht vor ihr ein Gebirge auf. Mächtige Gipfel aus Eis und Schnee glitzern in der Sonne. Meine Mutter genießt die schwindelerregende Höhe und das berauschende Gefühl von grenzenloser Freiheit. Ein Lied zu Ehren ihrer Göttin Bahluna kommt von ihren Lippen und sie überlässt sich ganz der Melodie, doch plötzlich spürt sie einen eigenartigen Sog, dem sie nicht widerstehen kann. Es fühlt sich für sie beinahe so an, als ob ein Wesen mit großer Macht eindringlich und fordernd nach ihr rufen würde. Ihre Flügel schlagen und drücken sie abwärts. Langsam gleitet sie der Erdoberfläche entgegen und fliegt an Tannen vorbei, die hoch in den Himmel wachsen. In den Ästen sitzen schwarze Raben und beäugen meine Mutter. Erneut schwebt sie empor und erhebt sich über die Wipfel der Bäume. Nach einer Weile blickt sie sich um. Vor ihr ist ein Plateau, auf dem ein uraltes Schloss mit unzähligen Türmen steht. Das Bauwerk ist von gewaltigen Ausmaßen. Meine Mutter fliegt näher heran und landet vor dem schmiedeeisernen Tor. Erst jetzt erkennt sie, dass Sommer ist. Sie sucht unter einer Kiefer nahe der Schlossmauer Schutz vor der allumfassenden drückenden Hitze. Die Zeit vergeht. Meine Mutter wartet. Schließlich setzt die Abenddämmerung ein und die Sonne verschwindet glutrot hinter dem Horizont. Die Luft flirrt noch immer von der drückenden Hitze des Tages. Neugierig blickt sich meine Mutter um. Irgendetwas hat sich im Traum verändert. Anfangs weiß sie nicht, was es ist, doch nach einer Weile wird ihr bewusst, dass es ringsum ganz still ist. So still, wie es nur in einem Traum sein kann. Kein Rabe krächzt, keine Grille zirpt, kein Insekt summt. Selbst der Wind scheint innezuhalten.
Da sieht meine Mutter drei Wesen. Sie gehen ruhigen Schrittes über den weitläufigen Vorhof des Schlosses. Ihre Stiefel wirbeln Staub auf, wenn sie auf uralte, zerbrochene Steinfliesen treten.
Die Drei kommen näher. Eine Aura von Macht und Unendlichkeit umgibt sie.
Meine Mutter kann sie jetzt besser erkennen. Es sind zwei Männer und eine Frau.
Links schreitet ein Herrscher. Groß, hager, mit dunklen Stoffen bekleidet. Ein Rapier an seiner Seite. Er trägt Handschuhe. Sein Gesicht verhüllt eine schwarze Maske, in die Zeichen mit kleinen diamantenen Steinen gestickt sind.
Rechter Hand marschiert ein Zauberer. Ein großer Schlapphut mit breiten Rändern sitzt ein wenig schief auf seinem Kopf. Seine Gesichtszüge sind verdeckt, aber meine Mutter meint, einen dichten Vollbart zu erkennen. Der Zauberer trägt die traditionelle Kleidung der magischen Bruderschaft: einen grauen Mantel mit den beiden Runensymbolen auf Schulterhöhe, eine purpurne Schärpe und darunter eine weiße Toga. In seiner Hand hält er einen langen Stab aus Zedernholz. Schmale Eisenbänder sind um seine Enden geschmiedet.
Zwischen den beiden Männern geht die Hohepriesterin mit anmutigen, fließenden Bewegungen. Ihre Haut ist dunkel wie Ebenholz. Langes, schwarzes Haar fließt über ihren Rücken. Ein goldener Stirnreif schmückt ihr Haupt. Ihr Gesicht ist fast überirdisch schön. Sie trägt ein enganliegendes, knöchellanges Kleid von blutroter Farbe. Ein breiter, schwarzer Gürtel liegt um ihre schmalen Hüften. Zwei lange, spitz zulaufende Dolche sind daran befestigt.
Sind diese drei Wesen gut oder böse?
Meine Mutter erhält in ihrem Traum keine Antwort. Aber sie spürt instinktiv, dass sie sehr gefährlich sind.
Der Herrscher, der Zauberer und die Hohepriesterin gehen weiter. Sie erreichen das große, schmiedeeiserne Tor. Es ist verschlossen.
Und mit einem Schlag erkennt meine Mutter diesen Ort, obwohl sie ihn nie noch nie zuvor aufgesucht hat.
Kalmania! Das verlassene Königsschloss, hoch oben in den Malthinischen Bergen. Tausend Jahre hat Kalmania über den Kontinent geherrscht, doch dann wurde seine Macht gebrochen und seit langer Zeit hat niemand mehr die sagenumworbene Königsburg betreten. Die Steine sind verwittert, die Balken von der Sonne ausgebleicht. Zerbrochene Dachziegel liegen im Innenhof. Efeu rankt sich um die hohen Türme. Knöterich und Schlehdorn haben die Säulen und Stelen überwuchert.
Die Hohepriesterin hebt ihre Hand. Knarrend entriegelt sich das große Tor und die Flügel schwingen auf.
Meine Mutter sieht lange Flure und
Weitere Kostenlose Bücher