Hundestaffel
vergessenen, phantastischen Garten. Sie bewachten Hannes’ Welt. Doch diese Grenze war für mich nun unüberwindlich geworden. Diese Grenze würde ich in Kürze hinter mir lassen. Das wusste ich, als ich ein letztes Mal darauf zuging.
Nichts an diesem Morgen war geplant. Zu keinem Zeitpunkt gab es Reflexion. Eine Folge von Zufällen und Wundern lief durch diesen Morgen, so wie sich die Kette durch die Öse jener Pfeife fädelte, die ich immer noch in der Hand hielt. Trotzdem verhielt ich mich sicher und gefasst, als folgte ich einem Drehbuch, das mir meinen Weg unabänderlich vorgab. Es gab in mir keinen Zweifel daran, was ich zu tun hatte. Keinen Zweifel daran, was ich tun musste, um für immer zu entkommen. Ich machte einige Schritte auf die Hunde zu, Hannes’ Arm winkte aus dem anderen Reich herüber, als lüde er mich ein, mit ihm zu gehen. Und wirklich streckte ich meine Hand nach der seinen aus. Die Hunde verfolgten meine Bewegung. Ich polierte das Silber der Pfeife und legte sie schließlich in Hannes’ Handfläche ab. Ich schloss seine Finger um das Metall und ließ los. Es gab keine Anzeichen dafür, dass ich jemals hier gewesen war.
Dann ging ich. Mein Blick fiel noch einmal auf Leo, ich verharrte kurz, doch ich wusste, dass ich mich nicht zu bücken brauchte. Ich musste nicht feststellen, ob er noch lebte, ich wusste mit Sicherheit, dass er tot war. Ich blickte noch einmal hinüber zu den Bäumen, wo geräuschlos das Rot eines Hirschfells verschwand. Ich tat es ihm nach. Ich ließ das Auto stehen. Ich ging los, mit halsbrecherischer Sicherheit, einen Schritt nach dem anderen. Sichere Schritte, mit einem Ziel. Noch nie war ich mit größerer Bestimmtheit gegangen. Distanzen waren nebensächlich. Ich ging zurück in die Stadt, und egal, wie lange es dauern würde, ich würde ankommen. Und niemand würde jemals erfahren, dass ich überhaupt hier gewesen war. Es war nicht die erste Nacht, die im Vergessen verschwinden würde. Doch diesmal war ich derjenige, der als Einziger den Schlüssel zum Erinnern in der Hand hielt.
Danach
Wenn ich meine Erzählung lese, glaube ich mir selbst nicht. Kann es sein, dass ich die beiden auf der Lichtung zurückließ, allein, ohne Zeugen? Kann es sein, dass niemand sich an mich erinnern konnte? Wäre das gerecht? Es dürfte nicht möglich sein, als Hauptfigur gänzlich aus einer Geschichte zu verschwinden. Es dürfte nicht möglich sein, sich selbst aus den Handlungssträngen zu radieren. Doch meine Spuren finden sich nur in meiner Erinnerung. Und ich beschloss, sie dort zu belassen, wohl behütet. Ich mache sie niemandem zugänglich außer mir selbst.
Ich bemerkte, dass diese Entscheidung mich zu einem neuen Menschen machte. Ich war Herr über meine Vergangenheit. Die Lückenhaftigkeit der Erinnerung wurde erstmals zu einer Chance.
Natürlich stellte man mir Fragen. Es könnte sogar sein, dass ich selbst Hannes’ Vater anrief, um mich zu erkundigen, wo Hannes denn bloß abgeblieben sei. Es könnte sein, dass ich ihm gesagt habe, dass ich seit jenem Abend nichts mehr von ihm gehört hätte. Wahrscheinlich war es so. Natürlich fand man auch die Körper. Man befragte die Mädchen, was vorgefallen war. Es war doch schließlich überaus verdächtig, dieser kollektive Gedächtnisverlust! Schließlich untersuchte man die Cocktails und stieß auf eindeutige Spuren. Man befragte schließlich auch mich, ich war jedoch leider keine große Hilfe. Ich war an diesem Abend zwar im Haus gewesen, doch auch schon sehr früh wieder gegangen; einmal abgesehen davon, dass ich von Hannes’ Vorhaben nichts gewusst hatte. Aber ich war schockiert. Eigenartigerweise konnte ich mich auch an die Zeit, nachdem ich das Haus verlassen hatte, nicht mehr erinnern. Mehr noch: Ich war am nächsten Morgen irgendwo in einem Garten aufgewacht. Man untersuchte mein Blut nach Spuren von Rohypnol und wurde ebenso fündig wie bei Bélisa, Anna und Maria. Nur in den Adern von Hannes und Leo fand man nichts.
Die Mädchen sagten aus, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob ich an dem Abend überhaupt im Haus gewesen sei. Maria gab sogar an, dass sie sich dunkel erinnern könnte, dass ich eigentlich schon sehr früh am Abend gehen wollte. Sonst erinnerten sich die drei an nichts. Man konnte sich nicht erklären, warum die Hunde Hannes attackiert haben sollten. Anna erinnerte sich aber daran, dass Hannes stets damit geprahlt habe, dass er die Hunde eigenhändig abgerichtet und scharfgemacht habe.
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