Hundsleben
Mordkommission«, sagte Gerhard. Das Schluchzen am anderen Ende war so
laut, dass er unwillkürlich das Handy vom Ohr weghielt.
»Die sind doch alle krank. In Schongau haben alle die
Magen-Darm-Grippe, die Füssener können wegen Glatteis nicht fahren, da ist das
in Weilheim gelandet. Bei mir und Felix. Ich schaff das nicht, ich schaff das
nicht, da hab ich Sie angerufen.« Der Rest ging in einem erneuten Schluchzen
unter.
»Melanie, beruhigen Sie sich! Ich komme!« Na, das war
ja toll. Nun musste er, sozusagen als Freundschaftsdienst, in die Einöde
fahren. Er überlegte noch kurz, den Kollegen in Schongau zu informieren, aber
er beschloss doch, erst hinterher vorbeizufahren. Hinter was nur? Das klang
nämlich nicht gut, gar nicht gut. Das klang nach Ekel, und das klang, so viel
war klar, nach verdammtem Medienrummel, sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Und es klang nach einer Scheißfahrerei an irgend so einen Weltenarsch. Dieser
Landkreis Weilheim-Schongau war für Gerhard immer noch ein Buch mit gewissen
Siegeln, und wohin er nun berufen wurde, das hatte er wahrlich noch nie gehört.
»Hinter der Wieskirche«, hatte Melanie gesagt, »aber
nicht über die Wieskirche zu erreichen.« Da Gerhard sich immer geweigert hatte,
ein Navi zu verwenden, und auf seine alten Landkarten bestand, würde das ein
echter Spaß werden, denn seine Karten stammten aus den achtziger Jahren und
waren zumeist wegen Colaüberflutungen verpappt. So wie sich das allerdings
anhörte, brauchte man in dem Fall eher eine Wanderkarte.
Es nieselte vor sich hin, Gerhard nannte so ein Wetter
»hohe Luftfeuchtigkeit«. Er war nun mal Optimist. Er hastete durch die
Fußgängerzone, sein Auto stand auf dem Parkplatz des Weilheimer Tagblatts. Weil
er so ein netter Bulle war, hatte er mal von einem Redakteur ein paar der
Ausfahrtsmarken erhalten, in einer retsina- und ouzoseligen Verbrüderungsaktion
im Dionysos, beim kleinen Griechen Toni.
Das Wetter war wirklich eins für viel
Weihnachtsmarktglühwein oder für Bettdecke über den Kopf – oder beides. Keines
für eine Ausfahrt. Wie fuhr man eigentlich auf dem schnellsten Weg nach
Steingaden?, fragte er sich und registrierte, dass er nach über drei Jahren im
Oberland immer noch weiße Flecken auf der inneren Landkarte hatte. Zumindest
wusste er seit seinem letzten Fall, wie man von Schönberg nach Echelsbach gelangte,
wo Jo und Kassandra nach wie vor ihre Wohngemeinschaft hatten. Und von der
unseligen Selbstmörderbrücke gleichen Namens ging es ab nach Steingaden. Jo und
Kassandra – die beiden mit all ihren Viechern –, für sie musste das der
Alptraum sein, was ihn nun erwartete. Sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Als er auf Höhe Wildsteig war, wurde es stürmischer.
Der Wind zerrte an seinem Bus, aber auch an den Wolken, die ab und zu einer
blauen Lücke Platz machten. Gerhard stellte fest, dass auf einmal Schnee lag,
gar nicht mal so wenig. Plötzlich war Winter, Schneewinter, Sturmzeit. In
Steingaden bog er nach links ab, ganz durch den Ort müsse er fahren und am
Schild mit den vielen Namen abbiegen. Was damit gemeint war, ging Gerhard am
Ortsende auf: So schnell konnte man gar nicht lesen, zu viele Namen standen da.
Fronreiten, Schlatt, Gogel – Hiebler war auch dabei gewesen. Das Sträßchen war
eng und kurvig, und es wand sich unmerklich bergauf. Und als wolle Steingadens
wildes Hinterland Werbung für sich machen, riss der Himmel auf. Der Blick ging
über einen zugefrorenen Tümpel und hinein in die Allgäuer Alpen – alles wie im
Bilderbuch.
Gerhard kam an eine Abzweigung, aha, da ging’s nach
Hiebler. Definitiv, hier war er noch nie gewesen; er bezweifelte, ob hier überhaupt
je Fremde gewesen waren. Das war ja eine … Er stutzte: gottverlassene Gegend?
Nein, das eigentlich nicht, es war wohl vielmehr so, als hätte Gott hier eine
gute Lobby: Feldkreuze, Kruzifixe an den Häusern, Lüftlmalerei mit biblischen
Motiven.
Die Straße führte in ein kleines Tal hinab, wo jemand
augenscheinlich ein Bauernhaus mit viel Liebe renovierte, und wieder hinauf
nach Hiebler. Ein paar Höfe, eine enge Ortsdurchfahrt, ein Hund bellte, eine
rote Katze huschte über die Straße. »Weiter auf der Teerstraße«, hatte Melanie
gesagt, »vielleicht fünfhundert Meter, dann geht’s rechts in den Wald. Aber da
steht dann eh ein Schild.« Da stand ein Schild, zweifelsfrei: »Gut
Sternthaler«. Der blaue Himmel hatte soeben den Kampf gegen die Wolken
verloren, schlagartig wurde es
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