0880 - Der Vampir von Cluanie
Rhett Saris ap Llewellyn, seines Zeichen Erbfolger und in der Pubertät befindlicher Teenager, war an diesem Tag gelangweilt und genervt. Er hatte keine Lust mehr, in diesem jungen Körper zu stecken und darauf warten zu müssen, dass sich seine Erinnerungen an frühere Leben wiederherstellten.
Er wusste schon einiges - dass er die Llewellyn-Magie beherrschte, und dass er länger leben würde als viele Menschen. Allerdings hatte er erst einen winzigen Teil dieser Magie kennen gelernt. Einen sehr winzigen Teil…
Rhett war ein besonderer Junge. Ein 14jähriger, der zurzeit mit den ganz normalen Dingen des Lebens kämpfen musste.
Er hatte Probleme in der Schule gehabt, war von dieser genommen worden, nachdem der Professor mit der Leiterin, Mademoiselle Montalban, gesprochen hatte und sich mit Lady Patricia einig war, dass das Beste für den jungen Laird ap Llewellyn war, Privatunterricht zu bekommen. Denn in einem Internat würde es zu den gleichen Problemen kommen wie in der »normalen« Schule.
Es war ein Dorn im Auge der ehrgeizigen Oberstudienrätin, aber eine Gelegenheit für Rhett, sich besser auf sich konzentrieren zu können.
So musste er sich den Spott nicht mehr gefallen lassen, mit dem einige Mitschüler über ihn lästerten, wenn er davon sprach, dass er mit einem Drachen zusammenlebte, oder dass es Katzen gab, die durch Wände gehen konnten.
Fantastereien, wie viele der Lehrer gesagt hatten.
Rhett aber wusste es besser. Ihm war bekannt, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab als Wolkenkratzer, Autobahnen und Flugzeuge.
Rhett hatte selbst schon erlebt, wie gefährlich das Leben seiner Mitbewohner im Château Montagne war; auch er hatte schon in Lebensgefahr geschwebt, wegen der Angriffe aus der Hölle.
Es war für Rhett etwas Selbstverständliches, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Schließlich lebte in ihm die Llewellyn-Magie. Ein starker Zauber, der ihn schon über weit mehr als 30 000 Jahre am Leben hielt. Jede seiner Inkarnationen lebte dabei ein Jahr länger als die vorherige, und so kannte er die Stunde seines »Todes« sehr genau. Neun Monate vorher musste er einen Sohn zeugen, und wenn er »starb«, wechselte sein Geist in den Neugeborenen, um mit ihm allmählich heranzureifen und in der Pubertät zu »erwachen«. Dann kehrten seine Erinnerungen Stück für Stück aus dem Nebel der Vergangenheit zurück, und auch seine Magie.
Der Sohn von Lady Patricia und Sir Bryont Saris ap Llewellyn schüttelte den Kopf, als er auf den Bildschirm seines Fernsehers schaute; wieder einmal lief bei ihm MTV, und es nervte ihn ungemein, dass es wieder Klingeltonwerbung war, die er sehen musste.
Es kümmerte ihn nicht einmal, was man alles mit einem Handy anstellen konnte; egal, ob es nun singende Elche waren, die einem ein Weihnachtslied vorsangen, oder motzende Teetassen, die einen beleidigten. Nicht einmal jammernde Küken erheiterten ihn außerordentlich. Das, was ihn in diesen Augenblick wirklich beschäftigte, waren andere Dinge. Seltsame…
Er spürte, dass in ihm etwas erwachte und er sich an Dinge erinnerte, die längst vergangen waren… Für viele Menschen mochte es seltsam sein, für Rhett nicht. Er war so etwas wie ein lebendes Zeitbuch. Jeder Geschichtsfan hätte seine wahre Freude an ihm gehabt. Rhett konnte von Zeitepochen berichten, in denen er gelebt hatte, über die viele Menschen heute nur spekulieren konnten.
So war es ihm möglich, von der französischen Revolution zu erzählen, als ob er sie selbst miterlebt hatte - was bedingt stimmte; schließlich hatte er zu diesem Zeitpunkt gelebt, zwar nicht als Rhett, aber als Bryont Saris ap Llewellyn, seinem vorherigen Ich, das ihn gezeugt hatte.
Klang kompliziert? War es nicht. Rhett wusste, dass auch er in knapp 266 Jahren einen Sohn zeugen musste, damit er in diesem wiedergeboren werden konnte. Rhett fand dies nicht seltsam oder erschreckend. Es war einfach so.
Aber wenn er sich an das zu erinnern versuchte, was damals geschehen war, war es ihm, als ob sich ein nebelartiges Tuch über seine Gedanken legte und es ihm nicht ermöglichte, genauer zu schauen.
Was war damals wirklich geschehen?
Einige Ereignisse, zum Beispiel die französische Revolution und die daraus folgende Angst des Adels, seine Macht zu verlieren, waren ihm ebenso präsent wie die Erinnerung an das Treffen mit seiner Mutter, als er damals Bryont gewesen war.
Das war für ihn weniger ein Problem als für Lady Patricia, der es schwer fiel zu verstehen,
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