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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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denken …
    »… ja, mir san mit’m Radl da …« Nun dröhnte der Gesang der Gläubigen schon so, daß die wunderschön bunten Kirchenfenster klirrten. Den Sangesfrohen schoß der Atem in Form weißer Wölkchen aus den Mündern. Das kam, weil es so hundsgemein kalt war.
    Der Hochwürdige Herr Dussl war ein sehr kluger Mann. Natürlich durfte er nicht zulassen, daß in seiner Kirche gewöhnliche Schlager gesungen wurden. ›Ja, mir san mit’m Radl da‹ indessen ist, insbesondere dem Rhythmus und der Melodie nach, alles andere als ein gewöhnlicher Schlager. Rhythmus und Melodie sind exakt die der ›negro Spirituals‹, jener innig bewegt frommen Lieder, welche die Schwarzen in den Südstaaten der USA singen. Und also durchaus für eine Kirche zulässig, was Hochwürden Dussl auch bestätigt worden war von höchster Geistlicher Stelle. Man stelle sich das nur einmal vor: Ohne Hochwürden Dussls Angebot wäre an diesem bitterkalten Sonntag ganz gewiß kein einziges Schäflein in das bitterkalte Gotteshaus gekommen. So aber war es neben der Heiligen Messe auch noch eine Mordsgaudi, und eine Mordsgaudi mögen die Bayern alleweil.
    »… ja, mir san mit’m Radl da …«
    An diesem Sonntag war es still in der Bundesrepublik Deutschland und in allen umliegenden Ländern. Verwaist lagen Straßen und Autobahnen. Die Bundesregierung hatte ein striktes Fahrverbot von Sonntag 3 Uhr früh bis Montag 3 Uhr früh erlassen. (Die Araber hielten, was sie angekündigt hatten!) Jetzt mußte jedes Land sehen, daß es so lange wie möglich mit seinen Ölvorräten auskam. Also: Fahrverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen – höchstens 100 km/h –, Heizungsbeschränkungen – höchstens 20 Grad in öffentlichen Gebäuden und Schulen, im Bundestag, in Kinos und Theatern –, Fahrgenehmigungen.
    Die deutschen Wohlstandsbürger hatte der Schock schwer getroffen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlten sie sich wieder an die Zustände bei Kriegsende erinnert. Vollgefressen, vollgesoffen, voller Erfolg, sahen sich nun auf einmal viele um den Sinn ihres Schuftens, Schaffens und Raffens gebracht: Sie durften am Sonntag nicht mehr Auto fahren!
    Die geliebten Autos!
    Es gibt nichts, was viele Deutsche mehr lieben als ihre Autos. Gatten, Gattinnen, Freundinnen, Freunde, Kinderlein, Gesundheit – alles ist diesen Leuten wurscht, wenn es um ihre Autos und um deren hemmungslose Benutzung geht. Und um die ging es jetzt. Also, das allein war für viele fast schon ein Grund zum Selbstmord …
    »… ja, mir san mit’m Radl da …«
    Für Jakob Formann war es kein Grund zum Selbstmord.
    Sondern sozusagen im Gegenteil! Unser Jakob blühte richtig auf. Seit Kriegsende hatte er sich nicht so wohl gefühlt. Das kam so: Seit Kriegsende bis zur Ölkrise von 1973 hatte er kaum einmal so leben können, wie es immer sein Traum gewesen war: naturverbunden, sportlich, vor allem hoch zu Rad, so weit und so oft und so lange er wollte, zu körperlicher Ertüchtigung. Im Ernst: Das, was für Millionen in aller Welt ein Alptraum war, das bedeutete für Jakob Formann (zunächst!) etwas ganz und gar Wunderbares!
    Ruhe! Frieden! In-sich-gehen-Können! Ausspannen! Ferien machen! Faulenzen! Wieder wie ein normaler Mensch leben! Ja, war das denn nichts? so fragte Jakob. Und vor allem: radeln, radeln, radeln! Nein, nein, versicherte Jakob sich glücklich immer wieder, ich bin noch der alte. Ich bin noch der Springinsfeld. Ein Springinsfeld mit kleiner Glatze meinetwegen. Aber sonst: oho! Mich müssen noch viele Schläge treffen, eh mich der Schlag trifft!
    Und so sprach er denn stets ernst und eindringlich mit allen Kleinmütigen: »Was denn, was denn? Glaubt ihr, das halten die Araber durch? Glaubt ihr, die können auf ihrem Öl sitzenbleiben? Die brauchen schließlich auch Geld! Keine Sorge! Relaxt mal ein wenig (nein, nein, ›relax‹ hat nichts mit Abführmitteln zu tun, sondern bedeutet ›entspannen‹), und dann werdet ihr sehen, wie sie ankommen werden, die Scheichs, und vor uns hinknien mit ihren Ölkanistern und uns anflehen mit erhobenen Händen: Nehmt, so nehmt doch um Himmels willen wieder Öl von uns!«

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    Hei, sauste Jakob dann in der folgenden Zeit über die verwaisten Autobahnen um München! War das eine Lust! War das eine Freude! Und tief einatmen, und tief ausatmen! Und strampeln, strampeln, strampeln!
    Am 25. November 1973, an jenem Sonntag, da er in der Kirche von Hammering bei Passau so fröhlich gesungen hatte, war er anschließend

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