Hurra, wir leben noch
Liedchens hatte die Besonderheit, daß man, wenn man wollte, fast nur mit dieser einzigen Zeile auskam, und das, sofern man nur wollte, stundenlang. Jakob sang »Ja, mir san mit’m Radl da!« in dem schönen Kirchlein von Hammering bei Passau in Niederbayern. Auf der Kanzel stand Hochwürden Karl Dussl und sang mit. Saukalt war es in der Kirche. Und die gläubigen Schäflein waren denn auch wirklich fast alle mit’m Radl da. Die Radln lehnten draußen an der Kirchenmauer. Vierundfünfzig Radln. Ein paar, die ganz nahe wohnten, waren zu Fuß gekommen. (Die logen jetzt beim Singen, die meisten aber sangen die Wahrheit.)
»… ja, mir san mit’m Radl da …« steigerte sich der Chor der Gläubigen. Jakob war auch wieder ein Gläubiger geworden! Hatte er doch in der Nacht zu seinem fünfundvierzigsten Geburtstag, im Geäst eines Baumes über der Mangfallschlucht hängend, ein Gelübde getan. Nix wie wieder rein in die Kirche, wenn ich jetzt mit dem Leben davonkomme, hatte Jakob gelobt. Er war mit dem Leben davongekommen. Er hatte sein Versprechen gehalten. Er war wieder in die Gemeinschaft der katholischen Christen eingetreten. Trotz der ganz schön hohen Kirchensteuer! Aber versprochen ist versprochen!
»… ja, mir san mit’m Radl da …« Der Chor schwoll weiter an. Das Liedchen war noch lange nicht aus! Der Geistliche Herr, Hochwürden Dussl, hatte vor diesem Sonntag verlauten lassen, er verheiße den Einwohnern von Hammering (und Umgebung) Gotteslohn und das Absingen von ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹, wenn sie auch wirklich zur Sonntagsmesse kämen. Diese Verheißung hatte natürlich ihren Grund. Der Grund dafür, daß in einer katholischen Kirche in Niederbayern ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹ gesungen wurde, war Jom Kippur.
Jom Kippur, zu deutsch ›Tag der Sühne‹, bekannter als Versöhnungstag, ist das höchste jüdische Fest. Es wird am zehnten Tischri mit strengem Fasten, feierlichem Sündenbekenntnis und ununterbrochenem Gebet begangen. In biblischer Zeit entsühnte am Versöhnungstag der Hohepriester das Heiligtum, das Volk und sich selbst.
Zum Jom Kippur des Jahres 5734 jüdischer Zeitrechnung, am 6. Oktober 1973 (sieben Wochen also vor dem ›… mit’m Radl-da‹-Gottesdienst in Hammering, Niederbayern), startete Ägypten einen Überraschungsangriff gegen Israel und verwickelte das kleine Land in einen Zweifrontenkrieg, nämlich im Süden am Suezkanal und im Norden bei den Golanhöhen, wo die Syrer den Kampf eröffneten.
Es wurde mit äußerster Erbitterung gekämpft. Die Verluste waren auf beiden Seiten sehr hoch. Schließlich wurde die ägyptische Dritte Armee von israelischen Truppen eingeschlossen. Mit allbekannter Blitzgeschwindigkeit reagierte wie immer auch diesmal die UN . Augenblicks, 25. Oktober, erzwangen Amerikaner und Russen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen einen Waffenstillstand.
Die Israelis waren erbittert. Die Araber auch. Die Araber besannen sich darauf, daß sie im Besitz einer Waffe waren, die sie zwar niemals zuvor noch aggressiv eingesetzt hatten, mit der sie aber die Weltwirtschaft ruinieren konnten.
Diese furchtbare Waffe hieß Öl.
Die arabischen Staaten erklärten, ihre Öllieferungen einschränken oder gar ganz einstellen zu wollen. Sie hielten Wort. Der Schock war weltweit. Die Folgen waren unabsehbar …
Herr Daghely, Libyens Botschafter in Bonn, gab dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview. Er sagte:
DAGHELY: Die ganze Welt soll unser Problem fühlen. So viel wie wir im Nahen Osten verfeuert haben, sollen Sie hier frieren. Sie müssen Israel klar sagen, daß es unseren Boden verlassen soll.
SPIEGEL: Das ist eine Erpressung.
DAGHELY: Wenn Sie so fühlen, ist es Ihre Sache. Ich habe nicht dieses Gefühl.
SPIEGEL: Sie wollen uns also mit dem Versorgungsdruck zu einer ganz bestimmten politischen Haltung zwingen.
DAGHELY: Da es dem Frieden dient, ist es keine Erpressung …
56
Nein, dann ist es keine Erpressung, dachte Jakob, der, während er (falsch) sang, auch (richtig) denken konnte, nun also am Sonntag, dem 25. November 1973, in der schönen kleinen Kirche von Hammering bei Passau (Niederbayern), weil ihm gerade eingefallen war, warum er hier stand und ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹ röhrte. Wenn da einer kommt und sagt, daß es dem Frieden dient, dann hat es in der Geschichte bisher schon immer eine Riesensauerei gegeben. Großer Gott, wie hat der Hitler dem Frieden dienen wollen.
Ach, lieber nicht dran
Weitere Kostenlose Bücher