Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
ihre Stimme
diesen besonderen, den Pflegebedürftigen vorbehaltenen Tonfall annahm, ein liebevoller
Singsang, bei dem ich für immer krank bleiben, für immer auf dem kleinen Lager liegen
wollte, blass, romantisch und mitleiderregend, halb ich, halb eine ohnmächtig werdende
Schauspielerin, aber stets sicher von meiner Mutter umsorgt.
    Jetzt kam es
manchmal vor, dass ihre Hände bei der Küchenarbeit zitterten und ein Teller oder
Löffel plötzlich auf den Boden fiel. Ihre Kleidung war nach wie vor elegant und
tadellos, aber sie ärgerte sich furchtbar über Flecken, Falten und ungenügend geputzte
Schuhe, etwas, woran ich mich aus meiner Jugend nicht erinnern kann, aber ich glaube,
sie hat das strahlend saubere Haus verinnerlicht und durch strahlend saubere Garderobe
ersetzt. Manchmal versagte ihr Gedächtnis, aber nur bei nicht lange zurückliegenden
Vorfällen oder gerade geäußerten Sätzen. Die frühe Zeit ihres Lebens hatte sie mit
nahezu übernatürlicher Schärfe vor Augen. Mit zunehmendem Alter machte ich mehr
und sie weniger, doch diese Veränderung in unserer Beziehung erschien nebensächlich.
Obwohl die unermüdliche Meisterin der Häuslichkeit verschwunden war, saß mir die
Frau, die ein kleines Lager zurechtgemacht hatte, um ihre kranken Kinder bei sich
zu haben, unbeeinträchtigt gegenüber.
    «Ich fand schon
immer, dass du zu gefühlsselig bist», sagte sie, ein Familienleitmotiv wiederholend,
«hypersensibel, eine Prinzessin auf der Erbse, und jetzt mit Boris ...» Meine
Mutter erstarrte. «Wie konnte er nur! Er ist über sechzig. Er muss verrückt sein
...» Sie warf mir einen Blick zu und hielt sich mit der Hand den Mund zu.
    Ich lachte.
    «Du bist immer
noch schön», sagte meine Mutter.
    «Danke, Mama.»
Ihr Kommentar war zweifellos für Boris bestimmt. Wie konntest du die immer noch Schöne verlassen? «Du sollst wissen, dass
die Arzte mich wirklich für gesund erklärt haben», sagte ich ungefragt, «dass so
etwas einmal vorkommen kann und dann nie wieder. Sie glauben, ich bin wieder die
Alte, einfach eine Feld-Wald-und-Wiesen-Neurotikerin, weiter nichts.»
    «Ich glaube,
es wird dir guttun, diesen kleinen Kurs zu geben. Freust du dich überhaupt darauf?»
Ihre Stimme war zittrig vor Gefühl - Hoffnung, vermischt mit Sorge.
    «Doch», sagte
ich. «Obwohl ich nie Kinder unterrichtet habe.»
    Meine Mutter
schwieg, dann sagte sie: «Meinst du, Boris wird es überwinden?»
    Das «es» war
in Wirklichkeit ein «sie», aber ich wusste das Taktgefühl meiner Mutter zu schätzen.
Von uns würde das Es keinen Namen bekommen. «Ich weiß es nicht», sagte ich. «Ich
weiß nicht, was in ihm vorgeht. Ich wusste es noch nie.»
    Meine Mutter
nickte traurig, als wüsste sie alles darüber, als wäre dieser Umschwung in meiner
Ehe Teil eines Weltskripts, das sie schon vor langer Zeit zu sehen bekommen hatte.
Mama die Weise. Der Nachhall empfundener Bedeutung durchfuhr ihren dünnen Körper
wie Strom. Das hatte sich nicht geändert.
    Als ich durch
den Flur des Ostflügels von Rolling Meadows ging, merkte ich, dass ich vor mich
hin summte und dann leise sang:
     
    Funkle, funkle,
Fledermäuschen. Was nur treibt dich aus dem Häuschen? Über der Welt seh ich dich
fliegen, Wie ein Teetablett gen Süden.
    Ich bewältigte
die Vormittage jener ersten Woche, indem ich ruhig an dem geliehenen Schreibtisch
arbeitete, danach las ich einige Stunden bis zu den nachmittäglichen Besuchen und
langen Gesprächen mit meiner Mutter. Ich hörte ihren Geschichten über Boston und
meine Großeltern zu, der Schilderung des idyllischen Alltags ihrer bürgerlichen
Kindheit, der dann und wann von ihrem Bruder durchbrochen wurde, Harry, ein Kobold,
kein Revolutionär, der mit zwölf Jahren, als meine Mutter neun war, an Kinderlähmung
starb und so ihre Welt veränderte. An jenem Dezembertag hatte sie sich vorgenommen,
alles aufzuschreiben, woran sie sich von Harry erinnerte, und das tat sie monatelang.
«Harry konnte die Füße nicht still halten. Beim Frühstück ließ er sie immer gegen
die Stuhlbeine baumeln.» — «Harry hatte eine Sommersprosse am Ellbogen, die wie
ein Mäuschen aussah.» - «Ich erinnere mich, dass Harry einmal im Schrank weinte,
damit ich ihn nicht sehen konnte.» An den meisten Abenden kochte ich bei mir oder
bei ihr etwas für Mama und versorgte sie gut mit Fleisch und Kartoffeln und Pasta,
dann ging ich über das feuchte Gras in das gemietete Haus, wo ich allein tobte.
Sturm und Drang. Von wem war das

Weitere Kostenlose Bücher