Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
kleines Mädchen hatte Cassie vor der arktischen Forschungsstation ihres Vaters unzählige Rettungsmissionen geprobt. Sie häufte alte Teile von Schneemobilen und kaputte Stromaggregate übereinander, um die Festung der Trolle nachzubauen.Dann kletterte sie die »Festungsmauern« hinauf und fesselte die »Trolle« (mit Kissen ausgestopfte alte Kleidungsstücke) mit Hilfe von Kletterseilen. Einmal hatte ihr Vater sie mit angeschnallten Skiern auf dem Dach der Station erwischt, bereit, auf ihnen bis hinter das Ende der Welt zu laufen, um ihre Mutter zu retten. Er nahm ihr die Skier weg und verbot Gram, die Geschichte jemals wieder zu erzählen. Doch das hatte Cassie nicht aufgehalten. Im Gegenteil. Wenn ihr Vater unterwegs war, flehte sie Gram ganz einfach an, die Geschichte zu erzählen. Und sie erfand ein neues Spiel, in dem ein Segel aus Zeltleinwand und ein ausrangierter Schlitten die Hauptrollen spielten. Selbst als sie bereits die Wahrheit kannte – Großmutters Geschichte sollte ihr auf nette Art und Weise begreiflich machen, dass ihre Mutter gestorben war –, hatte sie diese Spiele weiter gespielt.
Spiele brauche ich jetzt nicht mehr, dachte Cassie und grinste. Sie ließ die Spritze einrasten und hob das Gewehr an die Schulter. Und dieser Bär, so dachte sie, brauchte keine Gutenachtgeschichte. Er wirkte auch so überaus prachtvoll, war so vollkommen wie ein Bild aus einem Lehrbuch: cremefarben, muskulös und ohne jede Narbe. Wenn ihre Schätzung stimmte, war er der größte jemals gesichtete Eisbär. Und sie hatte ihn gefunden.
Als Cassie den Hahn des Betäubungsgewehrs spannte, drehte der Bär den Kopf und blickte direkt in ihre Richtung. Sie hielt den Atem an und erstarrte. Wind pfiff über das Eis und wirbelte losen Schnee zwischen ihr und ihm auf. Sie hörte ihr Herz so laut in den eigenen Ohren pochen, dass sie fast glaubte, er könne es auch hören. Das war es – das Ende der Verfolgungsjagd. Als sie aufgebrochen war, hatte Polarlicht am Himmel getanzt. In seinem Leuchten hatte sie die Spuren des Bären drei Meilen von der Station Richtung Norden verfolgt. Lockeres Meereis hatte sich gegen die Küste gedrängt, doch sie war darüber hinweg und hinaus aufs Packeis gefahren. Bis hier herauf, zu einem Block wirr aufgetürmter Eisblöcke, die wie eine Bergkette en miniature aussahen, hatte sie ihn verfolgt. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, ihr während der ganzen Jagd so weit vorauszubleiben. Die höchste Geschwindigkeit, die ein erwachsener männlicher Eisbär erreichen konnte, lag bei dreißig Meilen pro Stunde, und mit ihrem Schneemobil kam sie auf sechzig Meilen pro Stunde. Vielleicht waren seine Spuren ja nicht so frisch gewesen, wie sie aussahen. Oder sie hatte eine Art superschnellen Bär entdeckt. Angesichts der Lächerlichkeit dieser Vorstellung musste sie grinsen. Welche Erklärung es dafür auch immer geben mochte, die Spuren hatten sie hierher geführt, zu diesem wunderschönen, majestätischen, perfekten Bären. Sie hatte gewonnen.
Einen Augenblick später wandte der Bär seinen Blick von ihr ab und sah hinaus auf die gefrorene See.
»Du gehörst mir«, flüsterte Cassie, während sie ihn anvisierte. Da trat der Bät in das Eis hinein . Mit einer einzigen, fließenden Bewegung richtete er sich auf und tapste rückwärts. Es sah aus, als würde er in das Innere einer Wolke gehen. Zuerst verschwanden die Hinterbeine im Weiß, dann auch der Körper.
Unmöglich.
Sie senkte das Gewehr und starrte wie gebannt zu der Stelle hinüber. Das konnte nicht sein. Sie sah das hier nicht wirklich. Die Eiswand schien ihn förmlich zu verschlucken. Jetzt waren nur noch seine Schultern und der Kopf zu sehen. Cassie schüttelte sich. Er würde entkommen! Wie, war völlig egal. Sie hob das Gewehr und drückte den Abzug. Der Rückstoß schlug den Kolben der Waffe gegen ihre Schulter. Reflexartig blinzelte sie. Der Bär war weg.
»Nein«, sagte sie laut. Sie hatte ihn doch gehabt! Was war passiert? Bären gingen nicht durch Eis, konnten nicht durch Eis gehen. Es musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Irgendein Streich, den die arktische Luft ihr spielte. Sie riss sich die Brille vom Kopf. Sofort presste die Kälte ihre Augäpfel zusammen, und das grelle Weiß blendete sie. Cassie suchte die gefrorenen Wellen ab. Schnee trieb über das Eis wie schnell dahinziehende Wolken. Das Land war so tot wie eine Wüste. Erst als die Kälte zu sehr schmerzte und sie es keine Sekunde länger aushalten
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