Ich bin da noch mal hin
nicht als unwürdig für den Camino erwiesen haben konnte. Das hier war mein einziger despiste gewesen, wie meine sevillanischen Freunde sagen würden, ein kleiner Ausrutscher. Außerdem sind wir Pilger. Wir fügen uns in unsere Umgebung ein, essen, trinken und gehen zur Messe wie die Ortsansässigen, so, als würden auch wir hier leben. Wir zählen kurzzeitig zu den Einwohnern der Gemeinden, die wir durchwandern, nicht zu den Touristen, die auf einer parallel verlaufenden Straße vom Auto aus die Landschaft bewundern.
Trotzdem, ich habe nicht vor, mir heute noch einmal einen despiste zu erlauben. Um 7 Uhr 30 verlasse ich bei dreizehn Grad das Idyll der Herberge von Ribadiso, durch deren Grundstück der Fluss Iso fließt. Lange Nebelbänder hängen in den Tälern hinter den fernen Eichen. Die kühle Luft und die grüne Landschaft Galiciens erscheinen mir vertraut, fast wähne ich mich in England. Pinkfarbene Rosen und Wein an den Hausmauern erinnern an meine eigenen Versuche als Gärtnerin in einem kleinen Hinterhof in Liverpool, und ich frage mich, ob dies ein Übergangstag ist. Denken auch all die anderen Pilger heute an ihr Zuhause?
Mais- und Kohlpflanzungen reichen bis zum Ortsrand der drei Kilometer hinter Ribadiso an der Straße gelegenen Käsestadt Arzúa. Mit dem nüchternen Design der hohen Mietshäuser, den eisernen Balkonbrüstungen und den Holzhäusern auf Stelzen kann ich mich mühelos identifizieren. Der Camino windet sich durch eine unspektakuläre, halb urbane Landschaft, in der es an großartiger Architektur ebenso fehlt wie an magischen Zeremonien und aufwallenden Emotionen. Er führt zurück in die Realität, zwingt mich zu akzeptieren, dass es Zeitwird, nach Hause zu fahren. Wie, fragt er, wirst du im richtigen Leben Pilgerin bleiben? Das Dutzend Pilger, das mir grüppchenweise in das Café Ultreia folgt, scheint ähnlich nachdenklicher Stimmung. Hegen sie wie ich die Befürchtung, die Lektionen des Camino nicht recht in ihr künftiges Leben integrieren zu können? Ein Faltblatt, das ich gestern beim Verlassen von Melide in der Kirche San Pedro mitgenommen habe, will schonungslos wissen: »Was ist das Wichtigste, das Sie auf dem Camino erlebt haben?«
Pater Augusto hatte ganz klar formuliert, worauf es nach unserer Heimkehr ankommt: »Seien Sie glücklich! Das müssen Sie schon Ihrer Familie zuliebe. Fangen Sie bei der grundlegenden Sache an!«
Ich grinse beim Gedanken daran, wie er diese Worte ins Kirchenschiff geschleudert hat, kurz nachdem er sich erkundigt hatte, ob denn alle Deutschen schliefen. Aber er hat recht! Ich darf meine letzten zwei Tage nicht damit vertun, mich nach meinem normalen Leben zu sehnen und gleichzeitig zu wünschen, der Camino möge nie enden. Die Frage auf dem Faltblatt zu beantworten, ist weitaus interessanter. Ich bestelle noch einen Kaffee und verfolge aus dem Augenwinkel die Bilder im Fernsehen: Demonstrationen pro und kontra die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen in Argentinien. Demonstrationen wären auf dem Camino undenkbar. Wofür, wogegen sollten wir auch demonstrieren? Mehr gelbe Pfeile bitte? Ich höre zwar nicht, was Präsidentin Kirchner sagt, doch sie sieht mir zu fortschrittlich aus, um gegen das Gesetz zu sein.
Ist die wichtigste Lehre, die ich von meinem Camino mitnehme, dass es hier keine Konflikte gibt? Ist es die Toleranz, von der unsere Gastgeber durchdrungen sind? Ist es die Tatsache, dass wir, wenn wir unbeirrt in die richtige Richtung gehen, unser Ziel trotz aller Rückschläge und Flauten erreichen werden? Ist es die Tatsache, dass innere Entschlossenheit und äußere Hilfe stärker sind als jeder Rückschlag? Dass es darauf ankommt, unsere persönlichen Bedürfnisse wahrzunehmen und unser Leben entsprechend zu gestalten? Unsere Fehler gnadenlos zu registrieren und rechtzeitig zu korrigieren? Sich auf das Positive zu konzentrieren und »glücklich« zu sein? Oder sindall diese Elemente gleich wichtig? »Wenn Sie sich Compostela nähern«, fragt das Faltblatt aus San Pedro, »welche Gefühle erfüllen dann Ihr Herz?«
Je näher ich Santiago bin, desto stärker habe ich das Gefühl, dass die Lehren des Camino nicht überraschend sind. Es sind die Lehren jeder Weltreligion, jeder Moral. Es gilt, die positiven menschlichen Tugenden – Güte, Freundlichkeit, Großzügigkeit – zu entwickeln und die negativen zu eliminieren. Ist es das? Habe ich vierzig Tage und vierzig Nächte gebraucht, um zu dieser bereits weltweit etablierten
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