Ich bin da noch mal hin
Abschied. Meine schmähliche Kleingeistigkeit den Eindringlingen gegenüber hat an Kraft verloren. Als wahre Pilgerin dürfte ich sowieso keine solch elitäre Einstellung haben. Der Camino ist für jeden da, wo immer er auch losgeht, und es gibt Platz genug für alle. Nicht jeder hat genug Zeit, Geld oder Energie, um zwei Monate lang ab Saint-Jean-Pied-de-Port zu wandern. Wer sich entschließt, eine kostbare Woche seines Lebens zu opfern, um einhundertvierzehn Kilometer durch Galicien zu marschieren, anstatt am Strand zu liegen, ist doch kein Tourist, oder? Auch das sind richtige Pilger. Seit Iker Sara geküsst hat, habe ich mich benommen, als sei nicht nur die WM zu Ende, sondern auch mein Camino. Ist er aber nicht. Zwar habe ich drei Tage gebraucht, um mir meine Kleinlichkeit von der Seele zu laufen, aber unverbesserlich bin ich nicht. Mir bleiben noch zwei Tage Zeit, um Abbitte zu leisten und einem von Pater Augustos Mottos gerecht zu werden: »Wenn wir die Zahl der Tage in unserem Leben schon nicht ändern können, so sollen diese Tage wenigstens von Liebe und Leben erfüllt sein.« Ich kann mir nicht vorstellen, dass der freundliche Priester von Triacastela die »Sarrianer« davon ausschließen würde.
Jemand legt mir die Hand auf die Schulter, und als ich mich taumelig umdrehe, sehe ich hinter mir die drei sevillanos . Gern würde ich so tun, als gehörte die Weinflasche jemand anderem, aber das geht nicht – sie steht direkt vor meiner Nase, und die Einheimischen neben mir sind schon gegangen. Dreist imitiere ich Matthew Upsons Verhalten gegenüber Miroslav Klose und tue, als sähe ich die Flasche zum ersten Mal.
»Wir haben dich gesehen und wollten Hallo sagen«, erklärt Fernando herzlich.
»Setzt euch! Hier ist es super!«, antworte ich, etwas zu laut.
»Wir haben gerade an der Straße pulpo gegessen, wir wussten nichts von diesem Lokal«, fügt Miriam hinzu.
»Wie schade! Wenn ihr hier gewesen wärt, hätte ich das nicht alles allein getrunken. Wir hätten uns die Flasche geteilt. Seht nur!«
Warum, warum bloß habe ich sie auf das Restchen ribeiro am Boden der grünen Flasche aufmerksam gemacht? Werde ich die hohe Kunst des Mundhaltens nie lernen?
»Wir haben zu unserem Coca-Cola getrunken«, sagt Nadia.
Es kann doch wohl nicht sein, dass ich zwei Tage vor Santiago am Camino scheitere? Ich folge den hehren sevillanos über die Straße zur Kirche San Roque. Die letzten Tropfen ribeiro bleiben, wo sie sind, es kann also niemand behaupten, dass ich, Anne Butterfield, eines Morgens in Galicien auf dem Camino nach Santiago de Compostela eine ganze Flasche Weißwein ausgetrunken habe.
Donnerstag, 15. Juli 2010
Ich wandere 21,5 Kilometer von Ribadiso de Baixo nach Arca O Pino
»Es ist Zeit zum Aufstehen. Es ist sieben Uhr. Es ist Zeit zum Aufstehen. Es ist sieben Uhr.« Meine Weckansage umzustellen, lohnt sich nun nicht mehr, denn schon morgen werde ich sie zum letzten Mal hören. Zum letzten Mal in meinem Leben! Außer mir bekommt niemand den tadelnden Tonfall der herrischen Frau in meinem Handy mit, weil alle anderen den Schlafsaal schon verlassen haben. Ich stehe zwar in letzter Zeit selbst früh auf, aber für das »Rasen auf Blasen« habe ich immer noch kein Verständnis. Nicht einmal hier in Galicien, wo das Pilgeraufkommen am größten ist, besteht die Notwendigkeit, um 5 Uhr morgens loszueilen. An der gesamten Strecke sind seit 2001 so viele blitzsaubere private Herbergen entstanden, dass immer ein Bett zu haben ist, in welcher Provinz auch immer.
Ich weiß, dass ich gestern Vormittag nicht vier Becher ribeiro hätte trinken sollen. Am Vormittag! Aber die mittelalterlichen Pilger haben bestimmt auch Wein zum Frühstück getrunken. Das erklärt, warum sie Wunder erlebten und den heiligen Jakob auf einem weißen Pferd über den Himmel reiten sahen. Mir ist gestern Nachmittag auf dem Weg nach Ribadiso weder das eine noch das andere widerfahren, also habe ich wahrscheinlichweit weniger getrunken als Laffi oder von Harff. Von Vach, der risikoscheue deutsche Mönch, hat dem bösen Geist vermutlich widerstanden, bis er am Ziel war. Hans-Peter Kerkeling wählte den gleichen Ansatz, nachdem er in León zu Sprudelwasser bekehrt worden war. Deutsche können so, so … diszipliniert sein! Doch als ich nun in Melide unter den rötlich braunen Balkonen mit ihren grün und blau eingefassten Verglasungen einherschritt und die Straße hinaus nach Ribadiso zu finden versuchte, dachte ich, dass ich mich damit
Weitere Kostenlose Bücher