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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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schon aufdrängen? Die traditionellen verglasten Balkone von Melide lassen mich diese Befürchtungen erst einmal vergessen, und ich schlendere aufder Suche nach etwas Nahrhafterem als dem Kuchen von heute Morgen durch die malerische galicische Stadt.
    Mein »Gelbes Buch« empfiehlt mit Nachdruck, in Melide pulpo (Tintenfisch) zu probieren, und zwar am besten den »scharfen Tintenfisch in Wein, serviert auf einem Holzbrett, mit Brot und jener anderen Köstlichkeit, die Galicien zu bieten hat: seinem Weißwein, dem ribeiro«, den die Pulpería Ezequiel anbietet. Wein um zehn Uhr morgens ist zu dekadent, wenn man auf einer spirituellen Suche ist, aber den gut gewürzten Kraken will ich unbedingt kosten. Ich bin nicht die einzige Pilgerin hier, die auf diesen Gedanken gekommen ist – in der pulpería wimmelt es von Jugendlichen, die ihren pulpo mit Limonade und Sprudelwasser hinunterspülen. Und genau das werde auch ich bestellen, Sprudel und einen Teller pulpo .
    Mein Plan ist schon gescheitert, sobald sich die Kellnerin meiner langen Bank nähert.
    »Äh, pulpo«, sage ich, als gäbe es eine Alternative.
    »¿Cuál tamaño?«
    Wie groß? Woher soll ich wissen, wie groß die verfügbaren Oktopusse sind? Wie groß muss ein Tintenfisch für eine Person sein? Ich wirke offenbar vollkommen überfordert, denn die zurückhaltende Kellnerin kommt mir zur Hilfe. Sie deutet auf die Wand hinter dem Tresen, und ich drehe mich um und studiere die drei verschieden großen Holzbretter.
    »Aha, gracias. Eine kleine Portion bitte, und …«
    Ich schaffe es nicht, mein Getränk zu bestellen, denn sie verschwindet sofort hinter dem Tresen, um mit einer grünen Flasche kühlem ribeiro zurückzukommen. Die Tauperlen, die an der Flasche herunterlaufen, haben etwas Unwiderstehliches. Ohne mein Zögern zu bemerken, entkorkt die Kellnerin die Flasche und schenkt mir großzügig den Keramikbecher voll. Es ist erst zehn nach zehn, doch sie geht seelenruhig davon, als sei das völlig normal. Ich probiere einen kleinen Schluck, denn schließlich hat es Tradition, zum pulpo einen ribeiro zu trinken. So steht es in meinem »Gelben Buch«. Schon bevor die Kellnerin mit einem ansehnlichen Berg kleingeschnittenem pulpo zurückkommt, habe ich den ersten Becher geleert. Großzügig schenke ich mir, Galicien im Herzen, einen zweiten ein. DasDressing mit Olivenöl und Paprika kleistert die gummiartigen pulpo -Scheiben an meinen Zähnen fest. Dem muss ich mit noch mehr Wein abhelfen. Tatsächlich ist der ribeiro meine einzige Möglichkeit, dem extrem austrocknenden Effekt des pulpo entgegenzuwirken, also fülle ich am Ende der Mahlzeit nochmals mein Glas, um meinen Mund erneut zu befeuchten. Die Flasche ist fast leer, und dabei ist es erst 10 Uhr 50 am Vormittag.
    Auf dem Fernsehschirm oben an der Wand hinter den spanischen Jugendlichen küsst Iker Casillas noch einmal Sara Carbonero, die Journalistin, die ihn nach dem WM-Finale interviewt hat. »Der Kuss zwischen Iker und Sara ist um die ganze Welt gegangen«, verkündet der Text unter dem Kuss, der zu einem Symbol geworden ist, das Gustav Klimts weniger lebensechte Darstellung inzwischen an Popularität überbietet. Es ist beispielhaft für die nationale Euphorie: zwei ekstatische Fremde vereint in der Liebe zu ihrem siegreichen Spanien. Niemand wird je müde, sich das anzusehen, und die Jugendlichen johlen, als sie den gut aussehenden Torwart die verlegene Reporterin zum millionsten Mal innerhalb von drei Tagen umarmen sehen.
    »War das nicht super?«, sage ich zu einem Mädchen auf der Bank vor mir.
    »¡Precioso!« (Hinreißend!)
    »Die Journalistin war so verlegen.«
    Nicht zum ersten Mal starrt mich jemand an, als sei ich E. T.
    »Sie ist seine Freundin«, informiert mich die Jugendliche.
    »Wer?«, frage ich. Kurzzeitig habe ich den Überblick über die Charaktere in dieser Geschichte verloren.
    »Sara. Die Journalistin. Sie ist die Freundin von Iker!«
    »Wie bitte? Sie sind seit diesem Kuss ein Paar? Das ist ja unglaublich!«
    »Nein, nein! Sie waren schon Wochen vor der WM zusammen. Sie sind verlobt!«, lacht sie.
    Ich habe diesen Kuss, der um die Welt geht, falsch verstanden. Und zwar wahrscheinlich als einziger Mensch auf diesem Planeten.
    Die Jugendlichen streifen ihre hautengen Beinwärmer über, und marschieren, die rosafarbenen und blauen Tagesrucksäckegeschultert, in ihren krachneuen Turnschuhen weiter Richtung Santiago. Obwohl ich sie für Sarrianer halte, winke ich großherzig zum

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